: Israel will Gaza-Stadt besetzen
Israel will die Armee nach Gaza-Stadt schicken. Opposition und Sicherheitsexperten kritisieren das scharf
Aus Jerusalem Felix Wellisch
Das israelische Sicherheitskabinett hat den Plan von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zur Besetzung des gesamten Gazastreifens am Freitagmorgen nur teilweise angenommen. Die Minister stimmten für die Einnahme von Gaza-Stadt. Eine vollständige Eroberung des Küstenstreifens wird nicht explizit genannt. Das könnte ein Kompromiss mit Generalstabschef Eyal Zamir sein, der zuvor vor einer Besetzung des Gazastreifens gewarnt hatte.
Die Minister einigten sich auf Prinzipien, „um den Krieg im Gazastreifen zu beenden“: die militärische Kontrolle des Gebietes durch Israel und dessen Demilitarisierung, die Entwaffnung der Hamas, die Rückkehr aller Geiseln sowie den Aufbau einer Zivilregierung ohne Beteiligung der Palästinensischen Autonomiebehörde oder der Hamas.
Die Entscheidung dürfte die humanitäre Katastrophe für die mehr als zwei Millionen ausgehungerten Bewohner weiter verschärfen. Laut israelischen Medienberichten soll die Bevölkerung Gaza-Stadt bis Anfang Oktober Richtung Süden verlassen. Erst dann starte die militärische Offensive. Derzeit leben rund eine Million Menschen im Norden von Gaza. Der Großteil wurde in den vergangenen 22 Monaten mehrfach vertrieben. Laut Unicef gelten rund 320.000 Kinder in Gaza als akut mangelernährt. Für die Versorgung soll laut US-Botschafter Mike Huckabee die Zahl der Zentren der von den USA und Israel gestützten Gaza Humanitarian Foundation von derzeit 4 auf 16 steigen. Die GHF steht jedoch stark in der Kritik, da seit Mai im Umfeld von deren Zentren mehr als 1.000 Menschen erschossen wurden, die meisten wohl von israelischen Soldaten.
Harsche Kritik an dem Plan gibt es auch innerhalb Israels. Das Forum der Geiselangehörigen warnte vor Lebensgefahr für die noch rund 20 lebenden Entführten. Oppositionsführer Jair Lapid nannte die Entscheidung am Freitagmorgen eine „Katastrophe“. IDF-Chef Zamir, von Netanjahu selbst berufen, soll im Zusammenhang mit einer Besatzung von einem „schwarzen Loch“ gesprochen haben. Israels Armee müsste die Verantwortung für zwei Millionen Gaza-Bewohner übernehmen, seine Soldaten Guerillaangriffen aussetzen und würde das Überleben der noch rund 20 lebenden Geiseln in Gefahr bringen. Vertreter der Sicherheitsbehörden warnen vor Erschöpfung bei vielen Reservisten. Zuletzt gab es mehrere Suizide unter Soldaten.
Die Mehrheit der Israelis ist seit Monaten für ein Ende des Krieges im Austausch für alle Geiseln. Von der Hamas gehe keine strategische Bedrohung mehr aus, schrieben rund 600 ehemalige hochrangige Sicherheitsbeamte in einem offenen Brief und forderten ein Ende des Krieges.
Weshalb hält Netanjahu am militärischen Druck fest? Die Hamas ist geschwächt, aber trotz Israels militärischer Überlegenheit nicht besiegt. Ob der Regierungschef für sein politisches Überleben oder aus strategischen Erwägungen handelt, ist umstritten. Die Minister Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir, von denen er politisch abhängig ist, sprechen sich offen für eine Besetzung Gazas aus.
„Hier kommt die rechtsextreme Siedleridologie ins Spiel“, sagt Nimrod Goren von der Denkfabrik Mitvim: „Das Land zu nehmen und die Menschen zu vertreiben.“ Doch die „Umsiedlung“, wie sie seit US-Präsident Donald Trumps Riviera-Vorschlag immer wieder von israelischen Ministern aufgegriffen wird, sei kaum umsetzbar. Dennoch: Erklärte Absicht sei laut einem Bericht des Senders KAN unter Berufung auf eine anonyme Quelle in den Sicherheitsbehörden, die Bevölkerung durch die Vertreibung in den Süden zum Verlassen Gazas zu bewegen. Im Gegenzug will Smotrich eine Erhöhung der humanitären Hilfe mittragen, obwohl er lange offen für ein Aushungern von Gaza geworben hat.
Die Besetzung des Gazastreifens sei ein „gewaltiger Fehler“, sagte Dov Weissglas, der 2005 den israelischen Abzug aus dem Gazastreifen unter Premier Ariel Scharon organisiert hatte. „Es wird Menschenleben kosten, die Geiseln gefährden, die Armee und den Haushalt massiv belasten und die angeschlagenen internationalen Beziehungen verschlechtern.“ Die Bundesregierung teilte am Freitag mit, sie werde bis auf Weiteres keine Ausfuhren von Rüstungsgütern genehmigen, die im Gazastreifen zum Einsatz kommen können.
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