Israel-Ermittlungen in Den Haag: „Was wird wem zur Last gelegt?“
Der Internationale Strafgerichtshof untersucht mutmaßliche Kriegsverbrechen in Palästina. Experte Eliav Lieblich sagt, was davon zu erwarten ist.
taz: Herr Lieblich, die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag, Fatou Bensouda, lässt mutmaßliche Kriegsverbrechen in den palästinensischen Gebieten untersuchen. Werden demnächst israelische oder palästinensische Beamte verhaftet?
Eliav Lieblich: Davon sind wir noch weit entfernt. Aber wenn israelische und palästinensische Behörden selbst nicht willens sind, eigene Untersuchungen zu den Vorwürfen anzustellen, dann kann die Chefanklägerin die Fälle vor Gericht bringen. Vor Gericht müssten die Verdächtigen anwesend sein, die Chefanklägerin könnte also Haftbefehle erlassen, die für alle Mitgliedstaaten des IStGH bindend sind. Bei einem Haftbefehl gegen einen israelischen Beamten wäre Deutschland bei dessen Einreise verpflichtet, ihn zu verhaften. Daran sieht man, wie politisch kontrovers sich die Dinge entwickeln könnten, zumal Deutschland in diesem Fall die Gerichtsbarkeit des IStGH nicht für gegeben hält.
ist Professor für internationales Recht an der Tel Aviver Universität.
Ist es realistisch, dass es soweit kommt?
Es ist davon auszugehen, dass die Untersuchung Jahre dauert. Jetzt ist das Gericht erstmal verpflichtet, diejenigen Staaten über die Entscheidung zu informieren, die die Gerichtsbarkeit über eventuelle Kriegsverbrechen haben, in diesem Fall Israel und Palästina. Diese Staaten haben dreißig Tage, um zu sagen, dass sie selbst untersuchen. Nach sechs Monaten kann dann allerdings die Chefanklägerin das Vorgehen überprüfen, und wenn dies ergibt, dass die Untersuchungen nicht ernsthaft geführt werden, kann sie Schritte zur Wiederaufnahme des Verfahrens unternehmen.
Wird Israel selbst Untersuchungen einleiten?
In Bezug auf Israel sollen vor allem zwei Gruppen mutmaßlicher Verbrechen untersucht werden: solche während des Gazakrieges 2014 und bei palästinensischen Demonstrationen am Zaun der Gazagrenze sowie solche, die die Siedlungsaktivitäten im Westjordanland betreffen.
Es ist möglich, dass Israel die Operationen der israelischen Armee in Gaza selbst untersuchen lässt. Dann könnte es sein, dass der IStGH die Fälle nicht weiterverfolgt. Das war auch im jüngsten Fall so, der die britischen Aktionen im Irak betraf. Das Gericht entschied, keine Untersuchung einzuleiten, weil davon auszugehen war, dass Großbritannien die Anschuldigungen ernsthaft untersucht.
Was die Siedlungen im Westjordanland betrifft, wird Israel allerdings kaum eine Untersuchung einleiten, denn die Siedlungen sind eine erklärte Politik Israels. Israel betrachtet dies nicht als Verbrechen.
Was genau wird Israel in Bezug auf die Siedlungen zur Last gelegt?
Der Transfer von Zivilbevölkerung einer Besatzungsmacht in das besetzte Gebiet gilt nach dem Römischen Statut als Verbrechen. Das bedeutet nicht, dass man als einzelne*r Siedler*in als Kriegsverbrecher*in angeklagt wird. Laut der Chefanklägerin geht es um die Personen, die diese Politik betreiben, die die Siedlungen planen und genehmigen, die Anreize für die israelische Bevölkerung geben, sich in den palästinensischen Gebieten niederzulassen.
Und die palästinensische Seite? Wird sie selbst Untersuchungen einleiten?
Laut der Chefanklägerin haben die Palästinenser*innen niemals angekündigt, dass sie mögliche Kriegsverbrechen der Hamas oder anderer bewaffneter Gruppen in Gaza untersuchen werden. Es wird interessant sein, wie sie reagieren.
Im Juni wird der Brite Karim Ahmad Khan die amtierende Chefanklägerin Bensouda ablösen. Wird er ihre Entscheidung, Ermittlungen einzuleiten, kippen?
Es gab Gerüchte, dass das israelische Establishment froh sei, dass Khan Chefankläger wird. Ehrlich gesagt, verstehe ich die Euphorie aus der Perspektive der israelischen Regierung nicht. Khan ist ein sehr angesehener und professioneller internationaler Anwalt. Ich sehe nicht, dass er eine Kehrtwende macht.
Aus Israel kommt scharfe Kritik an Bensouda. Die israelische Mainstream-Politik versucht sie als antiisraelisch hinzustellen. Ich halte weder sie für antiisraelisch noch ihren Nachfolger für proisraelisch. Bensouda stand beispielsweise unter großem Druck, im Fall „Mavi Marmara“ zu ermitteln.
Das Schiff wurde 2010 auf dem Weg nach Gaza von der israelischen Marine gestoppt, nachdem diese angekündigt hatte, es daran zu hindern, die Blockade des Gazastreifens zu durchbrechen. Neun Aktivist*innen der „Mavi Marmara“ wurden getötet.
Und Bensouda blieb standhaft bei ihrer Position und weigerte sich zu ermitteln, obwohl sie sogar vom Gericht selbst zu einer Untersuchung gedrängt wurde.
Warum erkennt Israel den IStGH eigentlich nicht an?
Israel hat zwar im Jahr 2000 das Römische Statut des IStGH unterzeichnet, es aber nicht ratifiziert, also nicht in Kraft gesetzt. Israel ist mit dem Artikel nicht einverstanden, der den Transfer von Zivilbevölkerung in besetzte Gebiete als Verbrechen definiert. Das war der eigentliche Grund, auch wenn Israel heute sagt, das Gericht sei parteiisch. Wir hören einige Regierungsbeamte mit einer Rhetorik, die von Donald Trump kopiert ist.
Man hört auch das Argument, dass das Datum, das Bensouda gesetzt hat, parteiisch sei. Die Ermittlungen sollen Verbrechen untersuchen, die seit dem 13. Juni 2014 stattgefunden haben. Das ist genau ein Tag, nachdem Hamasterroristen drei israelische Teenager entführten und ermordeten, was wohl Auslöser des Gazakriegs war.
Bensouda hat dieses Datum nicht gewählt. Palästina hat die Zuständigkeit des Gerichts nur für die Zeit nach diesem Datum gewährt. Ein sehr zynischer Schachzug von Palästina. Alle Verbrechen vor dem Ausbruch des Krieges werden nicht untersucht. Aber es ist nicht die Chefanklägerin, die sich das ausgesucht hat.
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