Irritierende Kunst in der Kleinststadt: Hinter der Hülle
Christo? Nicht ganz. Aber dass im schleswig-holsteinischen Hohenlockstedt gerade ein Haus eingepackt ist, hat gute Gründe.
C hristo auf dem platten Land? Doch, ja: Sich erinnert zu fühlen ans weltbekannte Künstler:innenpaar mit den verhüllten Wahrzeichen-Bauwerken, das ist nachvollziehbar. Denn verhüllt ist seit Mitte März auch im schleswig-holsteinischen Hohenlockstedt – etwas über 6.000 Einwohner*innen – ein Stück öffentlichen Raums: mit Baugerüstplane, ohne dass aber auch gebaut würde.
Das Haus der Arthur-Boskamp-Stiftung hat die Berliner Künstlerin Zuzanna Czebatul da verpackt, genauer: einen Teil davon und auch den nur teilweise. Die Christo-Ähnlichkeit endet also auch gleich wieder. „The joy of being the cause“ steht nun in Schreibschrift groß auf der einen Seite des „M.1“, so heißt das Gebäude ganz genau.
„M“ steht dabei für „Massiv-Baracke“: Hohenlockstedt war seit dem 19. Jahrhundert Militärlager, erst dänisch, dann preußisch, später waren die SA, Heeressportschüler, aber auch Zwangsarbeiter*innen hier kaserniert. „Hohenlockstedt“ heißt der Ort erst seit 1956: Damals fand man „Lockstedter Lager“ irgendwie doch zu belastet – immerhin sitzt mit Pohl-Boskamp ein bedeutender Pharmakonzern im Ort, da muss man doch an die Wirkung denken.
Um die Ecke, parallel zur Breiten Straße, die so breit nicht ist, hat Czebatul wandhoch sechs längliche, rechteckige Strukturen auf die Plane gezeichnet. Sind das die causes, die Ursachen, von denen der Wandtext spricht? Wenn ja: Was verursachen sie?
Exklusivität und Alltag
„Exclusivities – Exklusivitäten“ ist das Ausstellungs- und Diskursprogramm überschrieben, zu dem die noch bis Anfang Mai zu sehende teilweise Verhüllung gehört. Es widmet sich „Fragen der Exklusivität“ in einer „Gesellschaft, in der die Grenzen zwischen innen und außen, privat und öffentlich zunehmend verwischen, während soziale, kulturelle und wirtschaftliche Grenzen an Bedeutung gewinnen“.
Durchaus nicht zuletzt interessiert sich Agnieszka Roguski, seit Anfang 2021 für 18 Monate Kuratorin des Programms, für die Grenzen und Schwellen im eigenen Betrieb: die Ein- und Ausschlussmechanismen von Kulturinstitutionen. Und das passt: Einerseits verstärkt die Plane vor den Fenstern – als deren skizzenhafte Wiedergabe nämlich entpuppen sich die merkwürdigen Rechtecke – das Trennende: Weil sie da hängt, ist es schwerer, wenn auch nicht unmöglich, hineinzuschauen in den Ausstellungsraum.
Unsichtbares sichtbar gemacht
Die temporäre Hülle macht etwas Unsichtbares sichtbar, sie unterstreicht, dass Kleinststadt und White Cube aneinander grenzen mögen, sich berühren, aber doch nicht dasselbe sind. Andererseits: Hauswandgroß richtet sich diese Kunst an ihre Umgebung, will gesehen werden, ohne dass der ach so andere Raum betreten werden muss; will vielleicht auch Irritation, eben, verursachen bei den Betrachter*innen.
Der Raum hinter der Inhalt gewordenen Hülle übrigens ist leer: Es gibt keine weiteren Exponate, das Publikum ist allein mit sich selbst und mit seinen Erwartungen. Bleibt der Gegenschuss, der Blick nach draußen: wiederum getrübt, aber nicht versperrt. Ständig ändert sich das Licht, wenn der Wind unter die Plane fährt. Diese Bewegung doppelt noch der Hintergrund: spektakuläre Wolken am holsteinischen Himmel.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Vorschläge für bessere Schulen
Mehr Führerschein wagen