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Interviewband der Autorin Sibylle BergAlles wird anders

Sibylle Berg hat Interviews mit Wissenschaftler*innen über die Zukunft der Welt geführt: „Nerds retten die Welt“ erzählt vom Heute und vom Morgen.

Irgendwer schrieb, Sibylle Bergs Romane seien belletristische Amokläufe. Dabei ist sie so zärtlich Foto: picture alliance/dpa

BERLIN taz | Der Terminator kommt nicht so schnell. Das ist auch schon beinah die einzige gute Nachricht, die Sibylle Bergs gerade erschienener Interviewband „Nerds retten die Welt“ bereithält. Aber wer ausgerechnet Sibylle Berg in die Erforschung des Zustands der Welt folgt, wird sowieso nicht von so geringem Verstand sein, die neoliberale Gegenwart für die beste aller Welten zu halten.

An dieser Stelle verabschieden sich nun alle Wohlfühlapologeten, weil sie der Meinung sind, wer neoliberal sagt, ist gegen alles und hat keinen Spaß oder ist zynisch wie Sibylle Berg, die von Männern, die das Leben im Kapitalismus ganz dufte finden, gerne als erbarmungslos beschrieben wird. Dabei ist Berg vor allem Realistin.

Sibylle Berg: „Nerds retten die Welt". Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020, 336 S., 22 Euro

„Wir ordnen den Scheiß jetzt neu“, sagt Sibylle Berg im Trailer zu ihrem mittlerweile mehrfach preisgekrönten wilden Roman „GRM“ aus dem letzten Jahr. Scheiß heißt alles. Die so called Ordnung der Welt. Schauplatz England, wo Marktdominanz, Privatisierung und Überwachung vielleicht am weitesten fortgeschritten sind: Auf der Straße nur der Abschaum, total überwachtes Menschenmaterial in einer total privatisierten Welt.

Bergs Protagonisten: vier Pubertätsjungs aus jenem Abschaum, die nicht mitmachen wollen. Ihre Weltflucht und ihr politischer Protest ist die Wut des Grime – eine schnelle, aggressive, sozialkritische Form des Rap. Grime ist die Allegorie des Klassenschicksals, schrieb Mark Fisher, der wie kaum ein anderer die Gewalt und Depression der ganzen neugeordneten englischen Scheiße eindrücklich analysiert hat.

Feldforschung in England

Berg hat für ihren Roman „GRM“ Feldforschung in England betrieben: Gangs in Liverpool oder Manchester, die Grime­szene in London etc. Außerdem hat sie für den Roman über zwei Jahre hinweg Interviews mit Wissenschaftler*innen geführt. Menschen aus der Systembiologie, KI-Entwicklung, Soziologie, Neuropsychologie und so weiter, darunter der Rechtsextremismusforscher Wilhelm Heitmeyer, die feministische Künstlerin Lynn Hershman Leeson und der Männlichkeitsforscher Rolf Pohl.

Aus den Gesprächen ist das Buch „Nerds retten die Welt“ entstanden. Es sind Gespräche, in denen Berg sich nicht bloß das Elend der Welt bestätigen lässt, sondern Optimismus sucht.

Gejammer und Sprechblasen helfen ja nicht. Berg versucht es mit (Selbst-)Ironie und Neugierde. Zwei Eigenschaften, auf die man unbedingt dauernd und besser als aufs Portemonnaie achten sollte.

Rechtsextremismus, Digitalisierung, Klimawandel, Gewalt gegen Frauen, Künstliche Intelligenz – vieles kommt zur Sprache, nicht immer sind es die interessantesten Expert*innen auf dem jeweiligen Gebiet, die sie befragt, manches bleibt unterkomplex, aber das meiste ist interessant. Was vor allem daher rührt, dass hier in irgendwie alter aufklärerischer Manier Expertentum heruntergebrochen wird auf „Wissenschaft für alle“. Nicht mit klugen Fragen brillieren, keine Bezüge zu Ciceros Moralphilosphie herstellen. Nein, so was dokumentiere schließlich bloß die Fähigkeit der Fragenden, sich gute Stichworte zu machen, so Berg.

Gehirne operieren

Stattdessen kriegen wir bergsche Ironie – bissig, lakonisch und zärtlich zugleich: „Ihre Doktorarbeit ‚Identification of regulatory mechanisms controlling signal processing in erythroid progenitor cells using mathematical modeling‘ lese ich gerade.“ Oder: „Ich träume oft, dass ich, meiner Neigung folgend, Gehirnoperationen durchführe. Haben Sie jemals Lust dazu verspürt?“

Mensch-Maschinen-Assemblagen, Panikmodus und Szenariodenken, Korrelation statt Kausalität, Technosecurity versus soziale Sicherheit, autokratisches Denken gegen die Demokratien – die Diagnosen aus den unterschiedlichen Disziplinen ergeben ein düsteres Bild von der Zukunft.

Es kommt etwas Neues. Das sehen die meisten von Bergs Gesprächspartnern so. Die Krisen, Konflikte und Identitätsmarker („das Kreuz, die Weißwurst, das Kopftuch“) deuten darauf hin, dass etwas zu Ende geht. Manch einer sieht den digitalen Faschismus heraufziehen, ein „beinah perfektes digitales Gefängnis – eine Kombination aus einer Big-Brother-Welt, Neofeudalismus und … Institutionen oder Unternehmen, die sich überall einmischen“.

Ein anderer glaubt, noch zu Lebzeiten Kontakt zu anderen Lebewesen da draußen im Weltall aufnehmen zu können: „Möglicherweise sind wir das Gespött der fortgeschrittenen Zivilisationen, sollten sie uns beobachten“, sagt der berühmt gewordene Astrophysiker Avi Loeb. Klingt nerdhaft. Oder einfach wahrscheinlich, weil nun mal „ein Viertel aller Sterne Planeten mit ähnlichen Oberflächenbedingungen hat wie die Erde“.

Die Sehnsucht der Menschen auszusterben, sei gigantisch, findet Berg. Dem berühmten, viel zitierten Satz Fredric Jamesons, dass es einfacher sei, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus, würde sie vermutlich zustimmen. In einem TV-Interview sagte sie einmal, es sei ein Kampf der Reichen gegen die Armen, der vor unseren Augen geführt werde. Doch auch das: für Sibylle Berg längst kein Grund zur Resignation.

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4 Kommentare

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  • Wenn ich sehe, wie sich Putin gerade einen ganzen Staat unter den Nagel reißt, dann frage ich mich schon, mit welchen Mitteln wir solche nimmersatten Menschen davon abhalten können, sich immer nach oben zu drängen um sich alles unter den Nagel zu reißen. Wir brauchen dringend eine Strategiediskussion.

  • 9G
    90118 (Profil gelöscht)

    hä?

    • 9G
      90118 (Profil gelöscht)
      @90118 (Profil gelöscht):

      sorry, das "hä?" ist @RINGELNATZ1, bin auf der maus ausgerutscht ;)



      sibylle berg kämpft schon länger für alle menschen - ohne jeden machtzynismus. dank und respekt!

  • 0G
    05158 (Profil gelöscht)

    Es ist doch noch gar nicht lange her, da haben wir uns über Frau Berg unterhalten.

    taz.de/Autorin-Sib...15&s=sibylle+berg/

    ..."Mensch-Maschinen-Assemblagen, Panikmodus und Szenariodenken, Korrelation statt Kausalität, Technosecurity versus soziale Sicherheit, autokratisches Denken gegen die Demokratien – die Diagnosen aus den unterschiedlichen Disziplinen ergeben ein düsteres Bild von der Zukunft...."

    Das sind diese wunderbaren Sätze die es so einfach verständlich machen, was uns der Autorin sagen will......

    browse.startpage.c...034635d3&t=default

    Dazu kommt auch noch geb. in Weimar. Nicht weit von Jena. Nicht weit von.........

    Frau Müller träumt von Weihnacht

    Sibylle Berg dichtet Besinnliches zum Fest

    Frau Müller war seit Jahren einsaaam,



    seit untern Zug in Vals ihr Mann kam.



    Nun stand auch noch die Weihnacht an,



    ein Jahr, nachdem es ihren Mann nahm.

    Und sie war wochenlang gelaufen



    vor diesem Laden hin und her,



    sie wollte jenen Mantel kaufen.



    Doch Geld hatte sie keines mehr.

    Sie sah sich in dem Mantel stehn,



    sah sich zu großen Galas gehn.



    Den Mann des Lebens fände sie!



    Doch ohne Mantel leider nie.

    Das Stück war rot und bis zum Boden,



    und er war mehr als simple Moden.

    Er war Zuhause und daheim,



    und ohne ihn hieß einsam sein.

    Sie war nun wirklich nicht sehr schön,



    doch mit dem Mantel kein Problem:



    Ein Haus am See, ein Pferd, Orgasmus,



    das käme mit dem Mantel allus.

    Das Geld hat sie dann unterschlagen.



    Sie trug den Mantel, hoch den Kragen,



    sie wollte nur noch tanzen, springen,



    und hörte nicht die Tram laut klingen.

    So war die Weihnacht für Frau Meier,



    die eigentlich doch Müller hieß,



    nicht eine wirklich schöne Feier,



    als man sie dann ins Grab abließ.





    Auf ein Neues.