Interview zu Kultur, Technik und Artenvielfalt: "Evolution und Gegen-Evolution"

Thomas Borsch vom Botanischen Garten Berlin will Artenvielfalt als gesellschaftlichen Wert verstanden wissen: Ohne den Menschen gäbe es weniger Vielfalt in der Natur.

Der Direktor in seiner Natur: Thomas Borsch im Botanischen Garten Berlin. Bild: santiago engelhardt

taz: Herr Borsch, sind Sie ein Naturfreak?

Thomas Borsch: Ein Freak? - Ich mag es nicht gerne radikal. Ich bin Naturliebhaber. Das ist wie bei Musikliebhabern, die Beethoven oder Mozart mögen, so mag ich Natur, so mag ich Organismen generell. Natürlich bin ich als Wissenschaftler auch Verstandesmensch, aber Pflanzen finde ich einfach schön. Sie sehen, da schwingt Emotionales mit.

Sind Sie auch ein Kulturfreak?

Schon wieder Freak. Aber klar: Ich bin auch kulturbegeistert. Der Botanische Garten, den ich seit kurzem leite, drückt das aus. Er ist beides: natürlich gestaltete Natur und auch Kultur.

Thomas Borsch, 39, ist Biologieprofessor an der Freien Universität Berlin am Fachbereich Biologie, Chemie, Pharmazie und seit 1. März neuer Leiter des Botanischen Gartens Berlin-Dahlem. Es ist einer der größten weltweit. Borschs Spezialgebiet sind Blütenpflanzen.

Etwa 300.000 Blütenpflanzen sind gültig beschrieben. Damit sind, so glauben Forscher, etwa 90 Prozent aller Blütenpflanzen bekannt. Bei Algen und Pilzen dagegen halten Forscher es für möglich, dass bisher nur 10 Prozent der Arten beschrieben sind. Biologen wie Borsch kämpfen darum, so viele Arten wie möglich zu beschreiben, bevor sie verloren gehen.

Im Botanischen Garten, der bald 100 Jahre seinen Standort in Dahlem hat, wachsen 22.000 Pflanzenarten. Das sind viel mehr als die geschätzten 3.500 Arten, die in Deutschland wild vorkommen. Zudem umfasst die Sammlung des Botanischen Museums etwa 3,5 Millionen Belegexemplare von getrockneten Pflanzen.

Anlässlich der derzeit stattfindenden UN-Naturschutzkonferenz in Bonn, die sich vor allem mit dem Verlust biologischen Vielfalt beschäftigt, kann man im Botanischen Garten Vielfalt live erleben. Im Garten wachsen 466 Pflanzenarten, die auf der Rote Liste Deutschlands stehen. Entlang roter Fäden wird am 25. Mai von 9 bis 21 Uhr von einer zur nächsten geführt.

Der Wissenschaftler ist demnach der Kulturmensch, der Pflanzenliebhaber der Naturmensch?

Ich kann in solchen Extremen nicht denken. Natur, Kultur und Technik sind keine Gegensätze für mich.

Heißt das, runtergebrochen auf den Botanischen Garten, dass Sie eine kulturelle Einrichtung verwalten, in der Natur wuchert?

Nicht nur wuchert, auch begrenzt wird. Denn natürlich sind der Botanische Garten und das Botanische Museum Kultureinrichtungen, da sie von Menschen gestaltet sind. Es ist ein Gesamtkunstwerk. Das fängt bei der Parkgestaltung an und geht über die Architektur der Gewächshäuser bis hin zu den einzelnen Kunstwerken, die im Garten stehen. Aber was hier natürlich ist, und das ist das Entscheidende, sind Organismen. Im Botanischen Garten gibt es Organismen aus allen Teilen unserer Erde. Für jeden haben wir so eine Art Passport, damit genau nachvollzogen werden kann, woher er kommt und unter welchen Bedingungen er in der Natur wächst. Der Botanische Garten ist ein lebendes Museum mit etwa 22.000 Pflanzenarten.

Um erfolgreich zu sein, müssen Sie diese Organismen dann mit Hilfe von Technik kultivieren.

Sicher, wir müssen in den Gewächshäusern bestimmte Klimazonen simulieren. Das geht nur mit Technik. Als Ergebnis haben wird dann eine schön blühende Pflanze als Ausstellungsstück für die Besucher. Gleichzeitig zudem ein wissenschaftliches Objekt. Der Botanische Garten gehört ja zur Freien Universität Berlin und dient daher auch Forschungszwecken. Wir können etwa Merkmale der Pflanze oder ihre DNA untersuchen. Das ist eben das Besondere an einem Botanischen Garten: Im Gegensatz zu Parks, die auch schön sind, wenngleich mit weniger Pflanzenarten, ist hier alles dokumentiert und dient nicht nur der Erholung, sondern auch der Wissenschaft.

Verwandeln Sie demnach Natur in Kultur im Botanischen Garten?

Sie wollen immer auf den Gegensatz raus, das ist schwierig. Eher gilt: Wir inszenieren Natur. Wir inszenieren natürliche Systeme aber nicht am ursprünglichen Ort.

Gibt es überhaupt noch so etwas wie unberührte Natur?

Unberührte Natur ist kein Garant für biologische Vielfalt, darauf wollen Sie ja vermutlich hinaus mit Ihrer Frage. Mitteleuropa wäre, wenn da nie Menschen gelebt hätten, ziemlich sicher von Wald bedeckt. Die waldfreien Gebiete wären Moore oder solche Trockenstellen wie die Binnendünen an der Oder. Aber jetzt gucken Sie sich im Botanischen Garten diese artenreichen Wiesen an. Dass solche Wiesen vorkommen, ist belegt bis zur Zeit der Römer. Diese Wiesen sind erst durch die Besiedlung entstanden. Also kann man sehen: Der menschliche Einfluss bewirkt nicht automatisch, dass die Artenvielfalt erodiert.

Die Wiese ist ein Beispiel, wo die Kultur Natur schafft?

Nein, wo die Kultur Vielfalt schafft. Die wichtige Frage heute ist jedoch, wie man es weitertreibt. Wenn ich sage, die Wiese reicht mir jetzt nicht, ich dünge sie sehr stark und mähe sie zehnmal im Jahr, dann ist die Artenvielfalt weg. Es ist eine Aufgabe der Biologie, das, was an Vielfalt da ist, zu erfassen und so zu verstehen, dass man Werkzeuge entwickeln kann, damit man sich als Mensch nachhaltig verhalten kann. So, dass man die Vielfalt managen kann.

Sind wir nicht bereits beim Verlust von Vielfalt angekommen? Heute beginnt in Bonn die UN-Biodiversitätskonferenz. Sie sagen, man muss Vielfalt managen, geht es nicht eher darum zu bewahren, was noch zu retten ist?

Ja, gute Frage, wie geht der Mensch mit Vielfalt um? Da haben Sie den Gedanken des klassischen Naturschutzverständnisses, der alles so bewahren will, wie es ist, und nichts verändert. Das hält Vielfalt aber auch nicht am Leben. Weil das bedeuten würde, dass man die Evolution abschneiden müsste. Der Mensch aber - und das ist ein wichtiger Punkt - sollte sich so verhalten, dass Vielfalt gewahrt bleibt und Evolution und Entwicklung trotzdem weitergehen. Wir leben in Evolution und Gegenevolution. Organismen - denken Sie an Krankheitserreger - evolvieren. Dann entwickeln die Organismen, die befallen sind, wieder Abwehrmechanismen, daran passen sich die Krankheitserreger erneut an. Ein gegenseitiges Spiel. Evolution soll weiter ablaufen, weil dabei Vielfalt entsteht. Es sterben Arten aus, ganz natürlich, aber es kommen auch neue hinzu.

Trotzdem: Es ist prognostiziert, dass 40 Prozent der Arten noch in diesem Jahrhundert verloren gehen. So viele werden kaum neu hinzukommen. In Ihrer Antrittsrede als Chef des Botanischen Gartens bezeichnen Sie das als Herausforderung. Wie wollen Sie dieser begegnen?

Da gibt es drei Richtungen, in denen wir tätig sein müssen. Als Wissenschaftler müssen wir Daten über die Biologie und die Evolutionsmechanismen sammeln und zur Verfügung stellen, um Empfehlungen zu geben, etwa wie man Systeme so nachhaltig nutzen kann, dass sie vielfältig bleiben. Außerdem müssen wir uns als Biologen in anwendungsorientierten Projekten einbringen. Etwa solchen, die der Frage nachgehen, wie nachhaltige Waldnutzung aussehen kann. Wie Pflanzenzüchtung so stattfinden kann, dass man viele verschiedene Arten und nicht wenige Cashcrops nutzt. Und dann muss das Bewusstsein der Öffentlichkeit in Hinblick auf Vielfalt gefördert werden. Die Menschen müssen verstehen, was biologische Vielfalt ist, und es als Wert begreifen.

Kommt die Einsicht, dass die Biologen sich stärker interdisziplinär in Gesellschaft und Wirtschaft einbringen müssen, nicht relativ spät? Wie wollen Sie sich Gehör verschaffen in einer Gesellschaft, in der Erforschen und Verwerten oberste Priorität hat?

Was heißt verwerten?

Wälder zu Papier machen. Mais zu Benzin, Monokultur, Braunkohletagebau.

Das sind Einzelbeispiele. Da kann man nicht sagen, das eine ist schlecht, das andere gut. Einen Wald zu Papier machen - auch da gibt es Möglichkeiten, dies nachhaltig zu tun und nicht alles, was da ist, abzuholzen und eine Plantage draufzusetzen. Fraglich nämlich ist, ob das wirtschaftlicher ist.

Trotzdem muss ja was passiert sein, sonst wäre Vielfalt oder Biodiversität nicht plötzlich ein politisches Thema.

Der Mensch hat gemerkt, dass Natur und Vielfalt nicht unerschöpflich sind. Das, was im Überfluss da ist, wird nicht so geschätzt wie das, was selten geworden ist. Die Biodiversitätsdiskussion hat damit zu tun, dass Natur verloren gegangen ist.

Wenn Sie so sprechen, merkt man, dass die Biologie plötzlich als sehr politische Profession daherkommt. War sie das schon immer?

Sie war gesellschaftlich immer relevant, aber es war der Gesellschaft und den Biologen selbst nicht so bewusst. Der Verlust der Vielfalt hat das deutlich gemacht. Und dann gibt es auch noch etwas: Die Biologie steht vor einem Paradigmenwechsel.

Wie sieht der aus?

Die Zeit kommt ins Spiel. Im letzten Jahrhundert hat man sehr erfolgreich Organismen auseinandergebaut bis in die kleinsten Teile, um so zu verstehen, wie sie funktionieren. Denken Sie an Arabidopsis, die Ackerschmalwand. Das war das erste Pflanzengenom, das sequenziert wurde. Inzwischen hat man gemerkt: Mit der Ackerschmalwand kann man die Welt um uns nicht alleine erklären. Wir sind an dem Punkt angelangt, wo man mit einzelnen, herausgepickten Fragestellungen an Modellorganismen nicht mehr weiterkommt. Deshalb ist Evolutionsbiologie wieder in aller Munde als zentrale Wissenschaft.

Weg vom Reduktionismus, hin zur Kontinuität?

Die Evolutionsgeschichte ist, was die organismische Biologie von der Chemie und Physik unterscheidet. Alle diese Organismen sind Ergebnis eines einmal abgelaufenen historischen Prozesses. Das ist etwas Besonderes. Sie brauchen das Verständnis über Evolutionsprozesse, um zu verstehen, wie biologische Vielfalt entsteht, wie Arten sich bilden und wie das, was an Vielfalt vorhanden ist, in einen logischen Zusammenhang passt. Ich muss historisch abgelaufene Evolutionsprozesse in ihrer Summe, der heutigen existierenden Vielfalt, analysieren, um das Um-uns-herum erklären zu können.

Die Biodiversitätskonferenz, zu der Sie fahren, steht im Zeichen von Kontinuität, im Zeichen des Paradigmenwechsels?

Klar. Da geht es um den Erhalt und nachhaltige Nutzung biologischer Vielfalt. Und was ganz wichtig ist: Es geht darum, dass die Staaten dieser Erde sich bewusst geworden sind, dass in Vielfalt Werte stecken und dass darin eine politische Dimension liegt. Also etwa dass man materielle Gewinne gerecht teilt, wenn man Organismen nutzt, die aus anderen Ländern sind.

Sie sparen auch in Ihrer Antrittsrede solche politischen Aspekte wie Gerechtigkeit nicht aus. Gleichzeitig haben Sie die Chance, vergleichsweise lange Chef des Botanischen Gartens zu sein. Wie wird dieser in 25 Jahren aussehen?

Ich bin kein Hellseher, aber ich kann sagen, was notwendig ist. Wir Biologen müssen Informationsbroker werden, um alles, was zum Erhalt der biologischen Vielfalt notwendig ist, zu generieren und weiterzugeben. Und wir müssen sehr viel mehr im Botanischen Garten selbst machen, damit dieses lebendige Museum besser von den Besuchern verstanden und in seinem Wert erkannt wird. Erstes Ziel: Bis zum Jahr 2010 sollen 75 Prozent der Deutschen mit dem Begriff biologische Vielfalt etwas anfangen können.

Und was ist bei all dem Stress, der als Chef des Botanischen Gartens auf Sie zukommt, mit Ihren Lieblingsblumen?

Ja, die Seerosen. Das sind so faszinierende Pflanzen. Sie sind groß, sie sind bunt, sie sind in extremer Feinabstimmung mit Insekten entstanden. Manche werden nachts von Käfern bestäubt, andere halten für die Tagbestäubung eine extrem genaue Zeitrhythmik ein. Es gibt welche, die gehen vormittags um 11 Uhr auf und nachmittags um 4 Uhr wieder zu. Während die Schwesterart um 1 Uhr erst aufblüht. Sie sind sehr schön und fein.

Sie mögen sie auch, weil sie so alt sind?

Sie waren vor 100 Millionen Jahren schon da. Sie kamen als Erste auf allen Kontinenten vor. Man kann ihre Genese mit erdgeschichtlichen und klimatologischen Veränderungen vergleichen. Sie spiegeln die Frage, wie Vielfalt entstanden ist und wie das zur Verbreitung in Raum und Zeit passt.

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