Interview mit Sängerin Ethel Merhaut: „Heute ist alles lauter!“
„Süß & Bitter“, heißt das Soloalbum von Ethel Merhaut. Ein Gespräch – mit Songtexten – über jüdische Komponisten und den nächsten Aufguss mit Eibischwurzel.
Ethel Merhaut ist am frühen Morgen aus Wien angekommen, ihre erste Reise seit anderthalb Jahren. „Was für ein Luxus!“, sagt sie und schwingt sich auf die kleine Sitzinsel im riesigen Saal, ganz oben im Maison de France in Berlin-Charlottenburg. Der Blick geht in Richtung Gedächtniskirche, weit unter uns fahren ein paar wenige Autos über den Ku ’damm. In Österreich kontrolliere das Bundesheer am Flughafen, ob man negativ auf Covid-19 getestet wurde, sagt Merhaut, hier würde man einfach so durchgewinkt. Sie wirkt erstaunt, aber gelassen angesichts von so viel, ähem, Freiheit in Berlin.
taz: Frau Merhaut, Sie rollen ja auch beim Sprechen das R so rund, wie beim Singen! Ich dachte, das sei nur ein Teil der Ästhetik von Chansons aus den 30er Jahren.
Ethel Merhaut: Ja, in den Liedern achte ich tatsächlich auch darauf. Aber das ist mein R, das kommt durch meine zweite Muttersprache Russisch. In Wien wird das R ja mehr als chh gesprochen.
Welcher Teil Ihrer Familie kommt aus Russland?
Meine Großmutter ist als Jüdin von Polen nach Russland geflohen. Mein Großvater war aus Moskau, sie haben sich in Litauen kennengelernt. Dann sind sie nach Österreich emigriert. Ich bin so ein Hybrid. Als Kind habe ich das Rrrr irgendwie ins Deutsche übernommen, das ist geblieben.
Dieses gerollte R in den Chansons hilft bei der Textverständlichkeit, oder? Wenn Sie singen, klingt jedes Wort glasklar.
Wenn ich alte Aufnahmen höre, kenne ich kein einziges Lied, bei dem das Wort verwischt wird. In den 30er Jahren war der Text extrem wichtig. Auch bei sehr hohen Tönen geht es vor allem ums Wort, nicht um den schönen Klang. Heutzutage hat der Text vielfach nicht die Priorität, jedenfalls nicht auf der Opernbühne.
Wie kommt das?
Die Instrumente sind viel besser geworden, sie werden immer lauter. Dadurch ist der Sänger gezwungen, riesige Töne zu produzieren. Auf einem riesigen Instrument, den Stimmbändern, ein feines Wort auszusprechen, das ist viel schwieriger. Die Ästhetik ist auch eine andere als damals. Die Stimmen waren heller, einfacher, feiner. Heute ist alles lauter.
Die Frau
Ethel Merhaut ist in Wien aufgewachsen. Dort studierte sie Sologesang an der Universität für Musik und darstellende Kunst.
Die CD
„Süß & Bitter“ ist das Solodebüt von Ethel Merhaut. Das Album mit Liedern der Zwischenkriegszeit erschien im Mai bei Sony Masterworks.
Waren früher Worte wichtiger als Musik?
Sie sind heute nicht weniger wichtig, bei Popmusik zum Beispiel versteht man den Text oft sehr gut. Aber beim klassischen Operngesang scheint es heute vor allem auf den Klang anzukommen, Hauptsache groß, weit, tragend. In einem Chanson ist die Musik nicht besonders kompliziert. Der Witz steckt im Text.
Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, ein Chanson von und mit Ethel Merhaut zu hören. Da wir nicht beim Radio sind, aber Chansons auch über ihren Text funktionieren, drucken wir einen Ausschnitt.
Ich kann nicht schlafen / denn ich bin verliebt / in einen Mann, den’s kein zweites Mal gibt. / Er hat mich um meine Ruhe gebracht / und das hat nur seine Schönheit gemacht. / Wenn er beim Tango den Arm um mich legt, / schneller mein kleines Herz schlägt. / Fester schmieg ich mich, zärtlich wieg ich mich, / und ich flüster’ erregt: / Alois, schau mich noch einmal freundlich an. / Alois, du bist für mich der schönste Mann / So eine Muskulatur, wie deine jeder Frau imponiert. / Und was das Schönste ist, du bist auch tätowiert.
In Österreich mag man dieses Lied von Hermann Leopoldi noch eher kennen, sagt Ethel Merhaut. In den 30er Jahren war „Alois“ auch in Deutschland ein Hit. Merhaut hat ihn aufgenommen und mit ihrem Mann ein Musikvideo dazu gedreht. Darin räkelt sich eine ältere Frau auf dem Bett, tanzt dann mit einem deutlich jüngeren, muskulösen Mann. Zwischendurch ist er kurz nackt zu sehen.
Wie kam es zur Umsetzung des Videos?
Ich hatte vor, diese sehnende Frau mit einer älteren Dame zu besetzen. Es ist ja ein Klischee, dass nur jüngere Frauen Begierde empfinden. Kurz vor dem ersten Lockdown saßen wir im Café, da fiel mir die Dame am Nebentisch auf. Sie trug exzentrischen Schmuck, war auffällig geschminkt, ich dachte mir schon: Sie ist outgoing. Als wir ins Gespräch kamen, es ging zuerst um einen Pullover, erzählte ich ihr von der Idee, ein Video für diesen Tango von Leopoldi zu drehen. Sie hat sofort gesagt, wann, super, kein Problem, ihr könnt’s in meiner Villa filmen. Sie tanzt jede Woche Tango, und der Mann im Video ist ihr Tangolehrer. Sie ist ein Vamp, das kann man gar nicht anders sagen. Es war wie ein Wink vom Himmel.
Ist sie Schauspielerin?
Nein, sie macht Schmuck. Sie sagte: Dieses Video ist mein letzter großer Auftritt. Sie hat es genossen, glaube ich.
Andere Alben, die in letzter Zeit erschienen sind, fangen das Coronagefühl der Einsamkeit und des Rückzugs ein. Die Chansons, die Sie aufgenommen haben, erzählen dagegen von Weiblichkeit, von Lust und dem Wunsch nach Luxus. Ist das Ihre Art zu sagen, sehr geehrtes Virus, wir möchten jetzt bitte wieder mehr Sinnlichkeit?
Wir haben tatsächlich mit der Plattenfirma überlegt, ob es sinnvoll ist, „Süß & bitter“ jetzt zu veröffentlichen. Aber die Leute sind so ausgepowert und müde nach all den Monaten. Die Chansons sind beschwingt und lustig, ich dachte, ich muss sie jetzt bringen. Auch die Stimmung ist jetzt viel lockerer.
Es sind Lieder, die vor gut einhundert Jahren entstanden sind. Also nach dem Ersten Weltkrieg, nach der Spanischen Grippe, nach einer insgesamt entbehrungsreichen, schwierigen Zeit.
Ja, das sieht tatsächlich so aus, als hätte ich die Platte wegen mancher Parallelen aufgenommen, oder? Aber sie war schon vor dem ersten Lockdown fertig. Sie ist wegen der Corona-Epidemie eine Weile in der Schublade gelegen.
Hermann Leopoldi, der „Alois“ geschrieben hat, war Wiener, Jude. Als die Nazis ihn ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt hatten, gelang es seiner Frau gerade noch, ihn freizukaufen. Sie war schon in den USA.
Viele der Komponisten aus der Zeit haben solche Geschichten. Richard Werner Heymann war in der Weimarer Republik der berühmteste Schlagerkomponist, er war der Generalmusikdirektor der UFA in Berlin. Er wurde rausgeschmissen. Die Nazis haben seinen Hund auf der Straße erschossen, das erzählt seine Tochter heute. Er ist geflohen. Als er nach dem Exil in Hollywood wieder nach Deutschland zurückkehrte, musste er bei der Einbürgerungsbehörde in Bayern ein Volkslied vorspielen, um seine Kenntnisse der deutschen Kultur zu zeigen. Pervers. Er sang „Das gibt’s nur einmal, das kommt nie wieder“. Die Leute bei der Einbürgerungsbehörde sagten, ah, das kennen wir, und er durfte einreisen, hat aber nicht verraten, dass er es geschrieben hatte.
Meine Großmutter hat mir dieses Lied manchmal vorgesungen, als ich klein war. Sie sang auch „Irgendwo auf der Welt / gibt’ s ein kleines bisschen Glück“.
Ja, das waren Riesenhits! Aber heute sind sie so gut wie vergessen.
Wie sind Sie auf diese Stücke gestoßen?
Ich singe solche Lieder ja schon eine ganze Weile. Von ein paar Komponisten existieren noch Bänder mit der Musik. Von Leopoldi gibt es sogar die gesammelten Werke, aber Heymann zum Beispiel wird gar nicht mehr gedruckt. Die Lieder liegen vereinzelt in den Archiven verschiedener Verlage. Es ist mühsam, dort ranzukommen.
Die meisten Komponisten, die Sie aufnehmen, sind jüdischer Herkunft. Wollen Sie zeigen, was Deutschland und Österreich verloren haben, anders gesagt: was die Nazis vernichten wollten?
Inzwischen könnte man das so formulieren, ja. Es war aber keine bewusste Entscheidung, Musik von jüdischen Komponisten aufzunehmen. Sagen wir es andersherum: Selbst, wenn ich sie vermeiden wollte, würde mir das nicht gelingen. In dieser Zeit sind Chansons oft einfach von jüdischen Komponisten geschrieben worden. Allerdings nehme ich Lieder, die in der Nazi-Zeit reüssiert haben, nicht ins Repertoire.
Ausnahme: „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn“. Das Lied stammt aus dem kommerziell erfolgreichsten Film der Nazizeit, „Die große Liebe“ aus dem Jahr 1942. Kriegspropaganda.
Das ist richtig. Zarah Leander hat es gesungen. Aber kennen Sie die Geschichte dahinter? Der Text ist von Bruno Balz, der ziemlich subversive Texte verfasst hat. Aber nicht deshalb wurde er verhaftet, sondern weil er homosexuell war. Dieses Lied hat er 24 Stunden nach seiner Inhaftierung geschrieben. Darin steckt bestimmt nicht seine Absicht, eine Durchhalteparole für Soldaten zu verfassen, sondern die Hoffnung auf ein freies, ein besseres Leben. Es ist ein Phänomen, dass dieses Lied während der Nazizeit so durchgeschlüpft ist.
Auch „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn“ ist auf dem neuen Album von Ethel Merhaut, auch noch ein weiterer Chanson von Bruno Balz: „Waldemar“.
Mein Ideal auf dieser Welt / Das ist für mich der kühne Held / Der große blonde Mann. / Er kommt aus einem Märchenland / Und reicht mir seine starke Hand / Die mich zerbrechen kann. / So sieht der Mann meiner Träume aus / Sein Name ist Ralf oder Per. / Die Wirklichkeit sieht aber anders aus, / Bitte, hören Sie mal her: / Er heißt Waldemar … und hat schwarzes Haar / Er ist weder stolz noch kühn, aber ich liebe ihn. / Er heißt Waldemar … und er ist kein Star / Seine Heimat ist Berlin, aber ich liebe ihn.
Haben Sie Sorge, dass diese Lieder heute falsch aufgefasst werden?
Politisch korrekt ist anders. Aber ein gewisses Maß an Ironie, an Witz macht diese Lieder ja gerade aus. Man muss sie mit Niveau singen, mit Timing, einem Augenzwinkern. Ich würde nie einen Text singen, der verletzend ist.
Sind Ihre Eltern Musiker?
Nein, mein Vater ist Arzt, meine Mutter Historikerin. Aber sie haben viel Wert darauf gelegt, dass wir ins Theater gehen, in die Oper. Eine klassische jüdische, bürgerliche Erziehung eben.
Als Sie Kind waren, hat Ihr Großvater gesagt, lasst sie schreien, sie wird mal Opernsängerin. Hat er Sie auf die Idee gebracht, Sängerin zu werden?
Ja. Ich war ein lautes Kind, vielleicht hat er mir meinen Beruf eingebrockt. Wir haben Campingurlaub am Meer gemacht, in Frankreich. Ich erinnere mich gut daran, wie mein Großvater und ich am leeren Strand um die Wette gebrüllt haben. Ich bin dann in die Musik eher so reingerutscht. Mit siebzehn habe ich die Aufnahmeprüfung an der Universität der Künste in Wien gemacht und bin erst mal durchgefallen. Ein Jahr später war ich dann besser vorbereitet und bestand. Man sagt, die Uni bereitet einen auf das Berufsleben als Sängerin vor, aber Operngesang ist ein hartes Pflaster.
Wegen der großen Konkurrenz?
Das auch, aber vor allem wegen der Anforderungen. Man muss sehr vielem entsagen. Einem Glas Wein am Abend, aufs Ausgehen überhaupt. Das Leben sieht so aus: Man hockt im Hotel, wartet, geht zum Vorsingen, wartet wieder, kriegt eine Absage. Man sorgt sich ständig um die Stimme und fragt sich, wann man den nächsten Aufguss mit Eibischwurzel trinken kann.
Opernsänger halten sich vom Leben jenseits der Bühne fern?
In meinen Augen schon. Die psychischen Belastungen sind einfach sehr hoch. Es ist Stress, wie Kampfsport mit zwei dünnen Stimmbändern. Ich kenne viele, die deshalb sehr schlechte Phasen hatten. Andererseits hat es mich abgehärtet. Ich kann mittlerweile mit Kritik gut umgehen. Und ich will ja auch die Rückmeldung.
Haben Sie sich mit diesen Liedern von der Oper verabschiedet?
Ich habe nach dem Studium erst mal versucht, in die Klassik zu rutschen, aber habe bald bemerkt, dass das nicht meins war. Ich hatte einen Mentor, der mir beigebracht hat, worauf es bei den Liedern ankommt: auf den Text. Jedes Wort muss anders betont sein. Mal singe ich luftig, verruchter, mal führe ich die Stimme mehr und achte mehr auf den Klang, mal spreche ich eine Strophe fast, die nächste singe ich. Es gibt Millionen Möglichkeiten, jedes Mal kann ich es ein bisschen anders machen. In der klassischen Musik konnte ich diese Möglichkeiten nicht so umsetzen. In diesem Repertoire habe ich mehr Freiheit.
In den 20er und 30er Jahren haben die Sängerinnen und Sänger zwischen Film, Operette, Chanson und Oper oft gewechselt. Gibt es das noch?
Wenig. Die Anforderungen an die klassischen Musiker, auch an die Opernsänger, an den Körper und die Stimme, haben sich verändert. Ich glaube, Opernsänger sind am Limit. Die Klassik ist oft eine ganz eigene Welt. Damals waren Opernstars oft auch Filmstars, sie sangen eine Mimi genauso wie eine Operettenrolle oder ein Chanson.
Heute debattieren Feuilletonisten bereits über Verflachung, wenn im Radio zwischen Mozart und Bach mal ein vereinzeltes Popstück oder Jazz gesendet wird.
Als Jugendliche und noch während des Studiums hatte ich den Gedanken, dass nur klassische Musik Kunst sei. Nur klassisches Ballett sei künstlerischer Tanz. Warum sich das in meinem Kopf etabliert hat, kann ich nicht sagen. Aber den Gedanken habe ich mittlerweile nicht mehr. Wenn man liebt, was man tut, kann man Tiefe erreichen, und die vermittelt sich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut