Interview mit Imam Ender Cetin: „Der Rechtsruck macht uns Sorgen“
Ender Cetin ist einer der ersten Absolventen des Osnabrücker Islamkollegs Deutschland. Er nennt es einen Wendepunkt der muslimischen Geschichte.
taz: Herr Cetin, Sie gehören zum ersten Jahrgang des Islamkollegs Deutschland. Macht Sie das stolz?
Ender Cetin: In gewisser Hinsicht ja. Für mich ist das wie ein Wendepunkt der muslimischen Geschichte in Deutschland.
Inwiefern?
Es gibt zum ersten Mal eine Imam-Ausbildung, die aus Deutschland finanziert wird, vom Bundesinnenministerium. Das war längst fällig. Jetzt muss die Politik mutig sein und diesen Weg fortsetzen.
Wie viele Absolvent*innen hatte der Jahrgang, der am Samstag vom ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff die Abschlusszertifikate bekommt?
Am Anfang waren es 25, am Ende 22, nationalitätsübergreifend. Es gab sowohl männliche als auch weibliche Kollegiaten.
Was bleibt Ihnen aus Ihrer Zeit im Kolleg besonders in Erinnerung?
Bestimmt das Gefühl, dass die Ausbildung ruhig drei oder vier Jahre dauern dürfte, denn der Stoff war umfangreich, und in vielen Fächern fühlt es sich an, als sei noch viel zu tun, noch vieles offen. Wir waren diskussionsfreudig, und das hat Spaß gemacht. Jetzt müssen wir dranbleiben, uns weiterbilden. Auch bei den Koran-Rezitationen hat uns der Dozent gesagt: Bitte immer weiterüben!
„Die Debatte, wie wichtig in Deutschland ausgebildete, deutschsprachige Imame sind, ist unüberhörbar“, haben Sie 2021 in einem Gespräch mit der taz gesagt. Aber die Berufsaussichten für Imame seien schlecht: „Es ist schon schwer, da voller Hoffnung zu sein.“ Wie ist es heute um Ihre Hoffnung bestellt?
Noch wie damals. Gut ist, dass jetzt über die islamische Seelsorge in Wohlfahrtsverbänden gesprochen wird, bei der Bundeswehr. Wir hoffen, dass das ausgebaut wird.
Anfang November findet in Berlin die Fachtagung „Islamische Militärseelsorge“ statt. Ist das eine Berufsperspektive?
Absolut. Islamische Militärseelsorge gibt es bis heute ja nicht.
Wäre das auch für Sie selbst vorstellbar?
Durchaus. Ich betreibe ja bereits Seelsorge, führe Einzelgespräche in Berliner Strafanstalten.
„Derzeit ist unklar, was aus den Absolventen unserer Einrichtung wird“, hat Professor Bülent Uçar beim Start Ihres Jahrgangs gesagt, Leiter des Instituts für Islamische Theologie an der Universität Osnabrück und Wissenschaftlicher Direktor des Islamkollegs. Hat er Recht behalten?
Auf jeden Fall, leider. Uns Absolventen geht es jedoch in erster Linie um eine anerkannte Zertifizierung. Das gibt uns das Gefühl, dass der Islam ein Teil Deutschlands ist. Das ist für uns schon ein Erfolg. Noch vor ein paar Jahren hätten wir nicht geglaubt, dass es so etwas mal geben wird.
Ist der Islam ein Teil Deutschlands?
47, hat jüngst das Islamkolleg Deutschland abgeschlossen. Der Imam arbeitet in Berlin mit Strafgefangenen und Schülern, nicht zuletzt in der Seelsorge.
Der Rechtsruck macht uns natürlich Sorgen. Und es gibt noch immer viele Vorurteile, noch immer fehlt es sehr an Akzeptanz. Aber vielfach spüren wir den institutionellen Willen, auch den staatlichen, die Muslime mit ins Boot zu holen.
Warum scheuen so viele Moscheegemeinden davor zurück, IKD-Absolventen einzustellen?
Das bisherige System hat sich bereits seit Jahrzehnten bewährt. Viele Gemeinden stehen ihm sehr nahe, und sie haben sich daran gewöhnt, Imame aus der Türkei geschickt zu bekommen. Manchmal spielt da auch die Staatstreue zur Türkei eine Rolle. Dass man Angst vor einer Verwestlichung des Islam durch uns hat, denke ich nicht; IKD-Imame sind auch in traditionellen Moscheegemeinden gut vernetzt. Auf der lokalen Ebene gibt es gute Absichten, aber mit den großen Dachverbänden ist es oft schwierig, die haben ihre eigenen Strukturen.
Was unterscheidet einen IKD-Imam von Imamen dieser Dachverbände?
Es gibt Stärken, aber es gibt auch Schwächen. Manche Imame, die aus der Türkei kommen, sind theologisch tiefgründiger. Der Vorteil bei uns ist, dass wir eine größere Nähe zur Realität der modernen Gesellschaft haben, gerade auch zur Jugend, durch politische Bildung, Gemeindepädagogik, Sozial- und Projektarbeit, auch durch unsere Deutschsrprachigkeit. Das ist effektiver. Und wir können viel freier agieren, auch in Predigten. In den Dachverbänden ist alles sehr hierarchisch.
Eine Realitätsnähe, die auch potenziellen Radikalisierungstendenzen entgegenwirkt?
Das kann ein Nebeneffekt sein.
Gibt es etwas, dass Ihnen Hoffnung macht?
Es gibt mehr und mehr kleinere Moscheevereine. Aber die sind noch nicht so sichtbar wie die großen Dachverbände. Da braucht es Empowerment.
Hat es Auswirkungen auf Ihre Arbeit, dass sie jetzt zertifizierter Imam sind?
Nein, ich mache da weiter, wo ich jetzt stehe. Ich arbeite weiterhin mit Strafgefangenen. Und ich bin Teil eines interreligiösen Teams, mit dem wir in Berlin in Grundschulen gehen, in Oberschulen, in Brennpunktschulen. Da haben wir auch schon gefeiert, dass ich jetzt ein anerkannter Imam bin, Made in Germany.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr