Interview mit Andrea Nahles: "Alle Geduld für Mindestlöhne"
Die SPD-Parteivizechefin erklärt, warum der Kampf um Mindestlöhne nicht verloren ist, wieso die Einwände der Union nicht gelten, und dass womöglich selbst Arbeitgeber gesetzliche Lohnuntergrenzen wollen.
taz: Frau Nahles, ist der Mindestlohn gescheitert?
Andrea Nahles: Wie kommen Sie denn auf diese Idee?
Bisher wollen nur zwei Branchen ins Entsendegesetz, Ihr Fraktionschef hat zehn vorhergesagt. Dürftig, zwei Wochen vor Ende der Meldefrist, oder?
Ich persönlich habe nie eine Zahl in die Welt gesetzt. Das halte ich auch für falsch. Weil es den Eindruck erweckt, dass es nach dem 31. März keine Möglichkeit mehr für Branchen gibt, ins Entsendegesetz zu kommen.
Gibt es die denn?
Ein Countdown zum 31. März ist Unsinn. Der 31. März ist kein Schlusspunkt. Viele Branchen wollen Rechtsklarheit. So lange das neue Entsendegesetz nicht gilt, bleiben sie vorsichtig, zum Beispiel der Einzelhandel. Wir wollen das Gesetz noch vor der Sommerpause verabschieden.
Glauben Sie das im Ernst? Der Wirtschaftsminister blockiert Olaf Scholz' Entwürfe.
Das ist das Ziel. Es sprechen einfach zu viele gute Gründe für schnelles Handeln: Die Reallöhne sinken, die Kaufkraft ist schwach. Gleichzeitig steigt die Zahl der Aufstocker, der Menschen also, die zusätzlich zu ihrem niedrigen Gehalt Zuschüsse brauchen. Wenn wir die Gehälter an der unteren Grenze nicht stabilisieren, wirkt sich das negativ auf die Sozialkassen aus.
Leider sieht die Union das anders. Der Wirtschaftsminister hat über 30 Einwände gegen das Gesetz - das sieht nicht nach schneller Einigung aus.
Ich denke, die Einwände des Herrn Glos speisen sich aus einer generellen Ablehnung von Mindestlohn-Regelungen. Wir werden diese sachlich-fachlich, aber genau bewerten. Und die Stimmen aus der Union sind ja widersprüchlich. Wer ist Wortführer? Das kann nur Bundeskanzlerin Angela Merkel sein.
Das Kanzleramt steht hinter den Einwänden, hört man.
Ich empfehle, jeden einzelnen Fall genau zu prüfen. Mein Eindruck ist: Da werden Argumente manchmal etwas beliebig gewendet, um Mindestlöhne zu verhindern. Ein Beispiel: Glos ist der Meinung, dass man das Mindestarbeitsbedingungengesetz nur in sehr wenigen Branchen anwenden darf.
In denen, wo die Tarifbindung unter zehn Prozent liegt.
Richtig. Bisher galt in der Koalition für alle Branchen eine Bindung bis zu 50 Prozent. Ebenjene 50-Prozent-Marke haben wir aber auf Bitten der CDU vereinbart. Als es damals um den Post-Mindestlohn ging, war es der Union eminent wichtig, dass diese Voraussetzung bei den Briefzustellern erfüllt wird. Da frage ich mich: Ja, was denn nun?
Nun verschafft das Urteil, das den Post-Mindestlohn für unzulässig erklärt, den Mindestlohn-Skeptikern Rückenwind.
Tatsächlich hat mancher versucht, das nicht rechtsgültige Urteil eines Verwaltungsgerichts zu nutzen, um Stimmung zu erzeugen. Man könnte das Urteil aber anders sehen: nämlich als Beschleuniger. Das neue Entsendegesetz des Arbeitsministers hätte die Bedenken des Gerichts ausgeräumt, insofern müssen wir es nach der Ressortabstimmung schnell vorantreiben.
Nochmal: Was ihr Koalitionspartner nicht will.
Ich sage ganz klar: Dann kann die CDU den Kampf haben. Und ich möchte die Skeptiker in Union und anderswo an eines erinnern: Die Debatte im vergangenen Herbst war heiß, sie hat der CDU nicht genutzt. Soll ich Ihnen zur CDU noch was sagen?
Gerne.
An sich bin ich ein ungeduldiger Typ. Aber bei den Mindestlöhnen habe ich alle Geduld der Welt. Das Ding ist nicht zu Ende, da klären wir gerne jedes Detail. Das wird die CDU so schnell nicht los. Selbst in der Wirtschaft findet ja ein Klimawandel statt.
Inwiefern?
Eine Umfrage der Berliner Handwerkskammer hat ergeben, dass zwei Drittel ihrer Mitgliederbetriebe einen gesetzlichen Mindestlohn wollen, weil sie Lohndumping fürchten. Das heißt, die vielbeschworene Panik in der Wirtschaft vor Mindestlöhnen existiert nicht.
Nun ja, die Chefs sieben führender Wirtschaftsforschungsinstitute warnen, sie erschütterten "die Grundfesten" der Marktwirtschaft.
Es gibt einen Unterschied zwischen Praktikern und Funktionären, die professionell Stimmung machen. Die Wirtschaftspresse brachte jüngst das Erebnis einer Umfrage unter Topmanagern: Vier von fünf sagen, gesetzliche Lohnuntergrenzen hätten keine Konsequenzen für ihren Betrieb.
INTERVIEW: ULRICH SCHULTE
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