Interview Schuldnerberaterin: „Es gibt immer einen Ausweg“
In Berlin ist jeder achte Erwachsene pleite. Wer sich an Regeln halte, könne aber aus den Miesen kommen, sagt Schuldnerberaterin Susanne Wilkening.
taz: Frau Wilkening, werden Sie von Ihren KlientInnen manchmal angepumpt?
Susanne Wilkening: Ab und zu haben Ratsuchende die Vorstellung, dass wir Gelder zur Umschuldung vermitteln können. Das können wir aber nicht, Geld gibt es bei uns nicht.
Den Dispo hat wohl fast jeder schon mal ausgereizt. Ab wann gilt man als „überschuldet“?
Wenn sich Menschen Geld geliehen haben, zum Beispiel von der Bank, einem Freund oder von der Oma, und damit klarkommen, dann sind sie verschuldet. Überschuldung dagegen bedeutet, wirklich pleite zu sein. Die Betroffenen können die Miete, ihren Strom und ihre Schulden nicht mehr bezahlen, und das dauerhaft. Ihre Einnahmen reichen nicht aus, um den ganzen Zirkus am Laufen zu halten.
Laut Schuldneratlas von 2017 waren knapp 374.000 BerlinerInnen in dieser Situation. Wie hoch sind die angehäuften Schulden im Schnitt?
Der Schnitt liegt bei ungefähr 35.000 Euro. Wobei das sehr unterschiedlich empfunden wird. Es kann durchaus sein, dass jemand mit 5.000 Euro Schulden nicht mehr schlafen kann, aggressiv oder depressiv wird. Ein anderer, dessen Selbstständigkeit gerade gescheitert ist, hat vielleicht 250.000 Euro Schulden und kann trotzdem leichter damit umgehen.
In Berlin ist jeder achte Erwachsene überschuldet, im Bundesschnitt nur jeder zehnte. Was sind die Hauptgründe, warum so viele BerlinerInnen derart in den Miesen sind?
Zum Beispiel eine plötzliche Arbeitslosigkeit. Wenn jemand ein Darlehen aufgenommen hat, um damit die Wohnung oder das Auto zu finanzieren, und dann seinen Job verliert, ist das ein Problem. Er kann seine Verbindlichkeiten nicht mehr so bedienen, wie er sich das zusammen mit seiner Bank anfangs vorgestellt hat. Auch eine Sucht hinterlässt oft eine Schneise von Schulden. Eine Krankheit oder eine gescheiterte Selbstständigkeit kann ebenfalls ein Auslöser sein. Oder eine Trennung, wenn plötzlich von demselben Einkommen zweimal Miete und Strom bezahlt werden muss.
Wie helfen Sie den Menschen, die zu Ihnen kommen?
Jeder Klient ist eine Wundertüte. Der eine braucht nur ein bisschen Unterstützung, um ins Insolvenzverfahren zu kommen. Ein anderer benötigt umfassende Hilfe im Umgang mit Behörden oder muss an eine Suchtberatung vermittelt werden. Beim ersten Termin, den man bei uns innerhalb von ein bis zwei Wochen bekommt, geben wir den Betroffenen zunächst eine Orientierung. Wir sagen ihnen, dass sie die Miete zahlen sollen, den Strom, die Kita, aber nicht die Bank, auch wenn das erst mal Angst auslöst.
56, leitet die Schuldnerberatungsstelle der AWO Berlin Spree-Wuhle mit Sitz im Rathaus Kreuzberg.
Sie fordern die Menschen auf, ihre Schulden nicht mehr zu bezahlen?
Das sagen wir nicht einfach so. Das Geld reicht schlicht nicht für alles, also muss man Prioritäten setzen. Wir klären die Leute auf, was passieren kann und was nicht. Wenn sie nur Jobcenter-Geld haben, kann ihnen das niemand wegnehmen. Man muss aushalten, dass viele Mahnungen kommen und vielleicht der Gerichtsvollzieher. Aber wenn man eine Perspektive hat, dann geht das. Die erarbeiten wir dann in der langfristigen Beratung.
Wie läuft das ab?
Was wir machen, ist soziale Schuldnerberatung, wir fragen also zuerst: Wie sieht es aus im Leben des Menschen, ist er stabil? Dann schauen wir, was für Einkommen er hat, ob es Möglichkeiten gibt, es zu erhöhen, ob wir Sozialleistungen beantragen oder der Betroffene eine Arbeit aufnehmen kann. Wir gehen auch alle Schulden durch und prüfen, ob sie berechtigt sind. Wir schreiben die Gläubiger an und bitten um Geduld oder Stundung. Irgendwann haben wir wie bei einem Puzzle ein Gesamtbild. Dann schauen wir, wie wir das Gefüge so hinkriegen, dass der Mensch wieder stark und gesund durchs Leben gehen kann.
Kommt es oft vor, dass Menschen pleite sind, weil sie einfach zu viel einkaufen?
Das gibt es auch. Wir führen das in der Statistik als „unwirtschaftliche Haushaltsführung“. Leute konsumieren zu sorglos, zum Beispiel beim Online-Shopping. Wir haben aber auch die Kategorie „unangemessene Kreditberatung“.
Das heißt: Die Banken verleihen Geld, obwohl ihre Kunden es nicht zurückzahlen können?
Genau. Beide Seiten wirken da zusammen, und das Ergebnis ist fatal.
Wenn die Schulden nicht bedient werden können, haben die Banken doch gar nichts davon.
Das wundert mich auch. Ich verstehe manchmal wirklich nicht, unter welchen Bedingungen Kredite vergeben werden. Ich habe eine 72-Jährige in der Beratung, die Grundsicherung im Alter erhält. Sie sollte 250 Euro im Monat abbezahlen, das geht mit 800 Euro Einkommen aber gar nicht. Sie hat keine unwahren Angaben gemacht, trotzdem gibt ihr die Bank einen Kredit über 20.000 Euro und stockt ihn immer weiter auf. So etwas ist mir unbegreiflich.
Überschuldung Laut dem Schuldneratlas 2017 waren 373.875 Berliner überschuldet, etwas mehr als im Vorjahr mit 373.221. Aufgrund des Bevölkerungswachstums verringerte sich die Überschuldungsquote von 12,7 Prozent im Jahr 2016 auf 12,6 Prozent im Jahr 2017. Die meisten Überschuldeten leben in Spandau (knapp 16 Prozent), die wenigsten in Steglitz-Zehlendorf (8 Prozent).
Beratungsstelle Die AWO-Schuldnerberatung im Rathaus Kreuzberg hat fünf MitarbeiterInnen und eine Verwaltungskraft. 2016 gab es 4.185 Beratungsgespräche. Auf einE MitarbeiterIn kommen im Schnitt zirka 100 langfristige Beratungen.
Theorie Im Frühjahr veröffentlichte die bundesweite Arbeitsgemeinschaft der zuständigen Sozialverbände ein Konzept für eine „Soziale Schuldnerberatung“. Es stellt die Arbeit von gemeinnützigen Beratungsstellen wie u. a. der AWO dar. Eine Studie des Deutschen Instituts für Sozialwirtschaft zeigte, dass sich die Beratung wirtschaftlich lohnt, weil etwa Sozialleistungen dadurch wegfielen und Gerichtskosten: Jeder in die Schuldnerberatung investierte Euro komme mindestens zweifach zurück, heißt es in der Studie.
Gibt es bestimmte Banken, die so agieren?
Im Moment fällt die Targobank mit einer nicht nachvollziehbaren Politik der Kreditvergabe auf, zum Teil auch die Santander-Bank.
Hat sich die Zielgruppe in Ihrer Beratung in den letzten Jahren verändert?
Nicht wirklich. Wir sehen etwas mehr Ältere als früher. Das wird sicherlich noch zunehmen, wenn die Babyboomer in Rente gehen. Von denen haben etliche eine gebrochene Erwerbsbiografie, wenn die mit einer Minirente und Sozialhilfe klarkommen müssen, ist das eine Umstellung.
Auch die steigenden Mieten dürften mehr Menschen in die Schulden treiben.
Das ist ein ganz bitterer Punkt in unserer Beratung. Häufig übernimmt das Jobcenter nicht die ganze Miete. Die Leute haben aber riesige Schwierigkeiten, etwas anderes zu finden, die Angst vor Obdachlosigkeit macht sie fertig. Wenn der Wohnungsverlust dann konkret droht, zieht es ihnen den Boden unter den Füßen weg. Und wir können kaum helfen, das ist schrecklich. Wir erleben immer häufiger, dass Familien zusammenrücken. Der erwachsene Sohn zieht mit Frau und zwei Kindern wieder bei den Eltern ein, das ist wie zu Zilles Zeiten.
Für viele ist eine Privatinsolvenz ein Weg, um aus der Schuldenfalle zu kommen.
Ja. In unserer Beratungsstelle gehen 60 Prozent ins Insolvenzverfahren. Sie verpflichten sich, zu arbeiten oder sich um Arbeit zu bemühen. Wenn es noch Vermögen gibt – ein Sparbuch, eine Lebensversicherung, ein Auto –, müssen sie es hergeben und damit die Schulden tilgen. Vom Einkommen darf eine Einzelperson nur rund 1.140 Euro ihres Nettoeinkommens pro Monat für sich behalten. Man bekommt zudem einen Insolvenzverwalter zugeteilt, der all das prüft. Das Konto wird in ein Pfändungskonto umgestellt, das heißt, der Betrag, über den man selbst verfügen kann, ist geschützt. Wobei manche Banken es den Menschen wirklich schwermachen.
Inwiefern?
Bei den meisten Banken füllt man in der Filiale ein Formular aus, dann klappt die Umstellung auf ein Pfändungskonto. Bei der Berliner Volksbank geht es nur noch online oder mit einem Postident-Verfahren – was viele Kunden so abschreckt, dass sie die Bank wechseln. Da steckt vielleicht auch eine Absicht dahinter, diese Kunden sind eben nicht gerne gesehen.
Seit zwei Jahren gibt es eine Pflicht für Banken: Sie müssen Kunden, die den Dispo regelmäßig ausschöpfen, eine Beratung anbieten. Hat das etwas geändert?
Das glaube ich nicht. Die Menschen bekommen einen Brief mit einem Beratungsangebot der Bank. Aber wer geht da schon hin?
Die Banken beraten selbst?
Ja. Sie räumen den Dispo erst ein. Und dann sollen sie dazu beraten. Ganz super.
Was schätzen Sie: Wie viele schaffen es, nach einer Überschuldung finanziell wieder auf die Beine zu kommen?
Im Insolvenzverfahren schaffen es die allermeisten. Wenn man sich an die Regeln hält, werden einem nach spätestens sechs Jahren die restlichen Schulden erlassen. Auch sonst gehe ich davon aus: Es gibt immer einen Weg aus den Schulden. Manche Wege dauern länger oder sind mühsam. Aber wenn die Leute mitmachen, dann geht es immer.
Das klingt ermutigend.
Ja, das ist das Gute. Deshalb macht mir mein Job auch so viel Spaß. Voraussetzung ist allerdings, dass die Leute sich wirklich auf unsere Beratung einlassen können. Dass sie sich melden, wenn etwas ist, und die nötigen Unterlagen zu uns bringen. Meine Erfahrung ist: Wenn die Menschen einmal Vertrauen gefasst haben, dann klappt das. Dann schaffen sie den Weg aus den Schulden.
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