Interkulturelle Beziehungen: Verstoßen wegen der Liebe
Als die assyrische Christin Juliana sich für eine Beziehung mit dem Aleviten Burak entscheidet, fordert ihr Bruder: „Pack deine Sachen, verpiss dich!“
Als Juliana den Raum betritt, wirkt sie wie eine Prinzessin, gehüllt in ein prächtiges Kleid aus elfenbeinfarbener Seide, das mit funkelnden Perlen und Glitzer verziert ist. Ihre engsten Freunde und Familienmitglieder sind überwältigt. Sie haben sich in der gemeinsamen Wohnung von Juliana und Burak versammelt.
Das Paar lebt in einer kleinen Stadt in Baden-Württemberg und heißt eigentlich anders. Aufgrund des starken Schamgefühls innerhalb ihrer patriarchalischen Gemeinschaft, in der es unüblich ist, offen über Probleme zu sprechen, wollen sie anonym bleiben. Die Gäste nutzen die Zeit, um schnell noch ein paar Fotos mit der Braut zu machen. „Heute ist mein großer Tag“, sagt sie und lächelt. Eigentlich sollte es der schönste Tag in Julianas Leben werden, würde sich ihre Familie nicht komplett gegen die Hochzeit stellen. Gegen das Brautpaar. Gegen die Beziehung.
Die Brautabholung ist ein emotionaler Höhepunkt einer orientalischen Hochzeit. Denn die Braut wird von ihren Eltern und anderen Familienmitgliedern verabschiedet, bevor sie sich auf den Weg zum Fahrzeug macht, das sie zum Hochzeitsort bringen wird. Es markiert den Beginn eines neuen Kapitels im Leben der Frau. Doch in Julianas Fall ruft dieser Moment schmerzhafte Erinnerungen hervor. „Ich habe gehofft, dass mehr Familienmitglieder da sein werden,“ sagt sie.
Dennoch ist sie dankbar für die wenigen, die es riskiert haben, zu kommen. „Ich weiß, dass das, was Juliana getan hat, nicht richtig ist,“ erklärte eine von Julianas Schwestern auf dem Weg zur Brautabholung. „Trotzdem ist es meine einzige Schwester und deshalb gehe ich zu ihrer Hochzeit.“ Von ihren sieben Geschwistern sind nur zwei anwesend. Sie haben sich heimlich auf den Weg gemacht, so wie der Rest der Verwandten.
Christlich-orthodoxe Konventionen
Doch was hat Juliana in den Augen ihrer Familie verbrochen? Ihre Familie sind assyrische Christen, die 1991 nach Deutschland geflüchtet sind und nach strengen christlich-orthodoxen Konventionen erzogen worden. Assyrer leben als religiöse und ethnische Minderheit im Irak, Syrien, Iran und der Türkei, wo sie seit Jahrhunderten in der muslimischen Mehrheitsgesellschaft verfolgt, vertrieben und ermordet werden.
Mittlerweile lebt der Großteil der Community in der Diaspora – in Deutschland leben circa 100.000 Assyrer. Aufgrund dieses Traumas ist es mit einem großen Tabu verbunden, mit einem Muslim eine Beziehung einzugehen. Es gibt nahezu keine Akzeptanz dafür. Ich kenne Julianas Familie sehr gut, denn sie sind mit mir verwandt. Die bevorstehende Hochzeit ist für mich auch etwas Neues, da solche Beziehungen in der assyrischen Community so gut wie nicht existieren. Uns Kindern wird bei der Partnerwahl auferlegt: „Hauptsache, er ist Christ.“ Die Beziehung zu einem Muslim stellt eine unverzeihliche Grenzüberschreitung dar.
Diese Erfahrung musste auch Juliana machen, als sie den alevitischen Türken Burak kennenlernte. Während sich einige Aleviten als „wahre“ Muslime betrachten, sehen andere das Alevitentum als eigenständige Konfession außerhalb des Islams. Auch mit den religiösen Vorschriften geht das Alevitentum entgegen der orthodoxen islamischen Lehre, liberal um. Inzwischen ist das Alevitentum in Deutschland als eigenständige Religionsgemeinschaft anerkannt.
Die 28-Jährige hielt ihre verbotene Beziehung geheim, bis zu dem Zeitpunkt als Verwandte sie und ihren Freund zufällig in der Stadt trafen – und damit der Albtraum begann. Obwohl Juliana ihrer Familie vor drei Jahren zu verstehen gab, dass Burak sogar für sie zum Christentum konvertiert ist, und es sich bei ihm um einen sehr liberalen Muslim handele, hielten sie aggressiv dagegen: „Sein Blut ist schon verdreckt!“ Wer einmal Muslim sei, bleibe immer Muslim.
Liebe oder Familie?
Für Juliana war klar, dass sie sich entscheiden muss: entweder für ihre Familie oder für ihre große Liebe. Sie weiß, dass sie das Haus ihrer Eltern nicht mehr betreten darf, ihre Nichten und Neffen nicht mehr sehen kann – und ihre Geschwister und Eltern nur noch Verachtung für sie übrig haben werden, wenn sie sich für diese Beziehung entscheidet. Die Liebe zu ihrem Freund war in diesem Moment stärker als die Angst – genau wie die naive Hoffnung, dass ihre Familie sie nicht heute auf morgen aus ihrem Leben verbannen würde.
Ein Wunschdenken. Juliana lebte bis zu ihrem 25. Lebensjahr mit ihrer Familie zusammen. Nachdem sie ihre Entscheidung verkündete, erhielt sie von ihrem Bruder eine SMS „Pack deine Sachen und verpiss dich sofort!“ Ihre teuren Möbel durfte sie nicht mitnehmen. Nicht einmal ihre Kleidung durfte sie behalten. Sie packte am selben Tag das Nötigste in eine kleine Tüte und zog zu ihrem Freund. „Mit meiner Beziehung zu Burak war ich fortan nicht mehr Teil der Familie“, stellte Juliana fest.
Wenig später schmiedeten Verwandte von Juliana Pläne, ihren Freund zusammenzuschlagen. Das Thema verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der assyrischen Community. „Eine unserer Frauen mit einem Muslim? – ein absolutes No-go“, hieß es. Burak und seine Familie verzweifelten an der Situation. Obwohl er sich ausführlich mit dem Christentum beschäftigte und konvertierte, waren seine Mühen umsonst. Die Familie seiner großen Liebe war nicht einmal bereit, sich ein eigenes Bild von ihm zu machen. Er erkannte: Es gibt keinen Ausweg aus dieser Situation, denn „sie werden mich niemals akzeptieren.“
Panikattacken und heimlicher Kontakt
Wie sehr Juliana unter der Situation litt, zeigte sich langsam an ihrer psychischen Gesundheit. Sie bekam Panikattacken. Es überkam sie die Angst, ihre alten und kranken Eltern nicht mehr sehen zu können. Während die Mutter heimlich Kontakt zu ihrem jüngsten Kind hielt, gab es für den Vater keine Juliana mehr. „Ich habe Angst, dass ich sterbe und sie wieder ins Haus gelassen wird“, erzählte er der Mutter besorgt.
Doch woher kommt diese starke Abneigung gegenüber dem Islam? Der Geschäftsführer des Zentralrats Orientalischer Christen in Deutschland, Simon Jacob, sieht neben der Verfolgung und Diskriminierung im muslimisch-nahöstlichen Raum noch weitere Aspekte: „Viele christliche Gesellschaften des Nahen Ostens leben noch oberflächlich in einer von Stammesprinzipien geprägten Gesellschaft, die eine Heirat oder eine Beziehung mit Außenstehenden als Bruch mit den eigenen Sitten und Traditionen betrachtet.“ Auch die Angst vor dem Verlust der eigenen Kultur sei laut Jacob entscheidend: „Beziehungen zu anderen Religionsgemeinschaften schüren die Sorge, dass die eigene ‚Ethnie‘, die bereits in der Vergangenheit massiv dezimiert wurde, endgültig die eigene Identität verliert.“
Darüber hinaus gibt es Jacob zufolge eine zusätzliche Abneigung gegenüber muslimischen Türken, denn während des Ersten Weltkriegs wurden Christen im Osmanischen Reich systematisch verfolgt, deportiert und getötet. Schätzungsweise über 3 Millionen Christen fielen diesem Völkermord zum Opfer, der vom Nachfolgestaat Türkei immer noch geleugnet wird. „Türken haben uns umgebracht, und unsere Töchter heiraten solche Männer“, empörte sich der Vater von Juliana. Das Trauma und der Hass sitzen tief.
Mit der Zeit verschlechterte sich der Gesundheitszustand von Julianas Mutter „Sollte ich irgendwann sterben, möchte ich, dass Juliana auf meine Beerdigung kommen kann“, erzählte sie ihrer Schwester. Als die Mutter dann plötzlich im Februar 2023 unerwartet verstarb, war es Juliana gleichgültig, was ihre Familie von ihr hielt, und sie machte sich auf den Weg ins Krankenhaus, um Abschied zu nehmen.
Sie schildert, dass selbst in diesem Moment ihre Anwesenheit nicht von allen respektiert wurde. „Mama, ich hoffe, du vergibst mir“, sagte sie nach eigenen Angaben weinend vor dem leblosen Körper ihrer Mutter. Im Zimmer standen ihre Geschwister, ihr Vater und noch ein Onkel, der Julianas Worte wütend unterbrochen haben soll: „Ich hoffe, Gott, du verzeihst ihr nicht!“ Ihre Brüder machten ihr schnell klar, dass sie in dieser kurzen Zeit bis zur Beerdigung das Haus betreten dürfe, auch zur Beerdigung und den Gedenkzeremonien könne sie kommen, schließlich habe es die Mutter so gewollt, aber danach sollte sie sich nicht mehr blicken lassen.
Burak und seine Familie wollten Juliana in dieser schwierigen Zeit zur Seite stehen. Für sie war es selbstverständlich, zur Beerdigung zu gehen – auch wenn sie wussten, dass sie für viele unerwünschte Gäste sind. „Was fällt ihr eigentlich ein, hierher zu kommen?“, tuschelten die Verwandten. „Sie schämt sich noch nicht einmal, ihren Muslim-Freund mitzunehmen!“, murmelten sie auf der Beerdigung. Auch meine Familie fand das Auftreten von Juliana respektlos.
Es vergingen Monate voller Trauer und Einsamkeit in Julianas Leben. Der Verlust der Mutter verstärkte ihre depressive Stimmung. Auch ihre Hochzeitsplanungen mit Burak legte sie auf Eis, bis sie sich nach über acht Monaten langsam auf das Thema einlassen konnte. Sie begann, ihre ausweglose Situation zu akzeptieren und all ihre Kraft in ihre gemeinsame Zukunft mit Burak zu investieren. Endlich wollte sie sich ihren größten Traum erfüllen: heiraten.
Mehr als 600 Leute feierten an Julianas großem Tag das Glück des Brautpaares. Sobald die Musik zu dem traditionellen Kreistanz „Halay“ eingeläutet wurde, eilten die Gäste auf die Tanzfläche. Alle Sorgen schienen vergessen, denn an diesem Tag gab es nur eines, das zählte: Die Liebe. Juliana hofft immer noch darauf, dass ihre Familie ihr vergibt. Nicht heute, nicht morgen, aber irgendwann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“