Intensivmediziner über Inzidenzwert: „Eine unsinnige Diskussion“
NRW ist Hochinzidenzgebiet, der Intensivmediziner Manuel Wenk muss wieder mehr Covid-Patienten behandeln. Die Abkehr vom Inzidenzwert kritisiert er.
taz: Herr Professor Wenk, die Inzidenzen sind in Düsseldorf dreimal so hoch wie im Bundesdurchschnitt. Merken Sie das auch auf der Intensivstation?
Manuel Wenk: Vor vier Wochen hatten wir genau null Covidpatienten auf unserer Intensivstation. Und heute ist schon wieder ein Fünftel der verfügbaren Intensivbetten mit ihnen belegt. Es nimmt jetzt gerade zu, ganz klar.
Von wie vielen Patient*innen reden wir da?
Fünf, einer wird beatmet. Zum Vergleich: Auf dem Höhepunkt der dritten Welle waren es in unserem Krankenhaus gleichzeitig 13 Covid Erkrankte auf der Intensivstation. Da kamen wir schon nahe an die Belastungsgrenze.
Was sind das aktuell für Erkrankte?
Unser jüngster Patient ist Anfang 20 und der älteste 58 Jahre alt. Alle sind nicht geimpft.
Hatten Sie schon vollständig geimpfte Patient*innen auf der Intensivstation?
Von allen Menschen, die wir behandelt haben, lag bislang ein voll Geimpfter auf der Intensivstation.
Können Sie etwas zur Liegedauer der Patient*innen sagen?
Es geht ja gerade erst los. Von der Krankheitsschwere war das, was wir in der dritten Welle mit den älteren Ungeimpften gesehen haben, sicher deutlich ausgeprägter. Jetzt kommen die Jungen, eigentlich Fitten, die vielleicht ein oder zwei Risikofaktoren mitbringen. Die lernen wir gerade erst kennen. Die aktuellen Patienten sind alle im Stadium der ersten Woche auf der Intensivstation. Da kommt erst noch der Scheidepunkt, an dem es besser oder eben immer schlechter wird.
Sehen Sie auch auf den Normalstationen deutlich mehr Menschen mit Covid-19?
Auch das nimmt zu. Die meisten der in den vergangenen zwei Wochen aufgenommenen Covid-19-Patienten kommen dann allerdings auch auf die Intensivstation. Offenbar brauchen die, die von den Jüngeren ins Krankenhaus müssen, dann auch mehr Unterstützung. Wie oft daraus dann ein wirklich schwerer Intensivverlauf wird, ist noch mal eine andere Frage. Die kann ich, wie gesagt, noch nicht beantworten.
Hatten Sie auch schon Patient*innen, die nicht wegen, sondern nur mit Corona auf die Intensivstation kamen?
Da fällt mir eigentlich nur einer ein. Bei einem Unfallopfer wurde eine Infektion festgestellt, von der die Person selbst noch gar nichts wusste. Allerdings hat sich auch deren Covid-19-Erkrankung inzwischen so verschlechtert, dass die Person deswegen auf der Intensivstation behandelt wird.
Hören Sie bei Ihren Patient*innen so was wie: Ach Mist, hätte ich mich doch impfen lassen?
In der aktuellen Krankheitsphase ist das kein Thema.
Man könnte ja denken, dass jetzt, wo alle Hochrisikogruppen geimpft sind, nicht mehr Patient*innen wegen Covid-19 auf der Intensivstation landen als wegen Krankheiten wie der Grippe. Stimmt das?
Sagen wir mal so: Fünf Lungenerkrankte auf der Intensivstation Ende August hätte uns auch vor Corona nicht schockiert. Die anderen Atemwegserkrankungen, bei denen wir sonst schwere Verläufe haben, sehen wir – vermutlich durch die aktuellen Hygienemaßnahmen – derzeit viel seltener. Und man darf nicht vergessen, dass die Krankheitsschwere, die wir bei Covid-19 erlebt haben, viel dramatischer war als bei einer Grippe.
Das galt aber für die älteren, ungeimpften Patient*innen.
Das stimmt. Bei den wenigen jüngeren Intensivpatienten aus der dritten Welle hatte man schon den Eindruck, dass die etwas besser durch die Erkrankung kommen. Aber nun haben wir auch eine andere Virusvariante, also müssen wir sehen, wie sich das entwickelt.
Sind Ihnen in der Zeit, seit geimpft wird, schon Patient*innen mit Impfnebenwirkungen wie Herzmuskelentzündungen begegnet?
Für die Notaufnahme und Normalstationen kann ich das nicht sagen. Aber auf der Intensivstation hatten wir weder bei den Erwachsenen noch bei den Kindern Fälle.
Es wird vielfach berichtet, dass es gerade auf den Intensivstationen eine Personalflucht nach der dritten Coronawelle gibt. Geht Ihnen das auch so?
Diese besondere Zeit hat unser Team eher zusammengeschweißt. Wir haben nicht mehr Fluktuation als in anderen Jahren, uns ist niemand weggerannt. Aber die Intensivpflege der vielen Coronapatienten war harte körperliche Arbeit unter extrem schweren Bedingungen. Diese Ausnahmesituation merkt man im Krankenstand, in der Belastung, in Gesprächen. Das wird natürlich nicht besser durch den sowieso bestehenden Personalmangel auf Intensivstationen, um den sich jahrelang niemand gekümmert hat und der der Politik scheinbar erst in der Pandemie richtig aufgefallen ist. Sie bekommen nirgendwo Intensivpflegekräfte her, es gibt sie einfach nicht. Und das müssen die, die da sind, ausgleichen.
Der Bundesgesundheitsminister will statt der Inzidenz die Hospitalisierungsrate zum neuen Richtwert für die Infektionsschutzmaßnahmen machen. Sind Sie damit einverstanden?
Das ist meines Erachtens eine völlig unsinnige Diskussion. Natürlich hat der Inzidenzwert nicht mehr diese einfache Aussagekraft, die er noch vor ein paar Monaten hatte. Die Lage ist komplexer, weil wir inzwischen viele Geimpfte haben und sich vor allem Jüngere infizieren, die ein geringeres Risiko haben, schwer zu erkranken. Aber auch wenn sich das Verhältnis geändert hat, gilt noch die Regel: Wenn die Inzidenz steigt, werden wir am Ende auch mehr Patienten haben. Und trotzdem wird jetzt krampfhaft versucht, von der Inzidenz wegzukommen und für diese einen anderen Wert zu finden, der die gleiche Aussagekraft hat.
Wofür plädieren Sie stattdessen?
Warum kann man nicht einen Dreiklang finden aus 7-Tage-Inzidenz, Hospitalisierungsrate und Intensivaufnahmerate? Das machen wir hier in Düsseldorf mit allen Krankenhäusern gemeinsam schon das ganze Jahr so und können damit gut planen. Ich bin natürlich Mediziner und kein Politiker. Und vielleicht ist das der Bevölkerung schwieriger zu vermitteln. Aber dafür haben wir doch im Robert Koch-Institut die Experten, die aus den Zahlen konkrete Lageberichte erarbeiten. Auf die Inzidenz zur Prognose möchte ich jedenfalls nicht verzichten.
Was sagt Ihnen denn die aktuelle Inzidenz in Düsseldorf?
Vor einer guten Woche hatten wir eine 7-Tage-Inzidenz von 90, jetzt sind wir bei 150. Das sagt mir, dass ich in einer Woche noch mal mehr Covidpatienten im Krankenhaus und noch eine Woche später auf der Intensivstation haben werde. Wie viele genau, hängt davon ab, ob die Infizierten geimpft sind und wie alt sie sind – 35 ist da für uns Intensivmediziner die magische Grenze, ab der die schweren Verläufe wahrscheinlicher werden.
Bereitet Ihnen der Herbst Sorge?
Ja. Es gibt eine Hochrechnung vom Robert Koch-Institut aus dem Juli, aus der hervorgeht, wie sehr die Zahl der Patienten von der Impfquote abhängt. Eine auch nur etwas niedrigere Impfquote sorgt demnach für deutlich mehr Patienten. Und wenn ich sehe, wie die Impfungen gerade stocken – das muss einen beunruhigen.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Alleingang des Finanzministers
Lindner will Bürgergeld kürzen
Putins Brics-Gipfel in Kasan
Club der falschen Freunde
Deutsche Asylpolitik
Die Hölle der anderen
Kritik an Initiative Finanzielle Bildung
Ministeriumsattacke auf Attac
Linke in Berlin
Parteiaustritte nach Antisemitismus-Streit
Investitionsbonus für Unternehmen
Das habecksche Gießkannenprinzip