Integratives Theater wird 20: Als Eisenhans auszog, die Welt zu entdecken
Kein pädagogisches Selbsthilfeprojekt, sondern Theater um des Theaters willen: Beim Eisenhans am Hamburger Thalia Theater brechen Menschen mit Behinderungen aus den gewohnten Räumen aus. Ein Besuch zum 20-jährigen Jubiläum.
Und dann war da Heidi Kabel. Patricia war schon immer ein riesiger Theaterfan. Aber selber Theater zu machen? Das konnte sie sich nicht vorstellen. Dann traf sie am Tag der Offenen Tür im Hamburger Ohnsorg Theater, das sie so liebt, die Kabel.
„Ich gehöre auf die Bühne, hat sie gesagt. Und dass ich da auch mal stehen würde. Ich dachte, die hat sie nicht mehr alle! Ich auf der Bühne. Ich!“, Patricia lacht. „Und dann kam plötzlich meine Oma und meinte auch, ich gehörte auf die Bühne. ,Du spinnst!‘, habe ich ihr gesagt.“ Schließlich sagte dann auch noch ihre Chefin: „Du bist ein Typ. Warum spielst du eigentlich nicht Theater?“ Patricia dachte: Mich tritt ein Pferd mit zwei Füßen.
Ihre Chefin rief dann bei dem leitenden Theaterpädagogen des Thalia Theaters Herbert Enge an, der für das Eisenhans-Theaterprojekt zuständig ist. Seit dem Beginn vor 20 Jahren ist er dabei. Nächsten Mittwoch könne sie anfangen, hat er Patricia gesagt. Das war vor zwei Jahren. Sie solle mal gucken, wie sie sich fühle auf der Bühne. „Ich war hin und weg. Ich war fertig! Ich habe sofort zu Herbert gesagt: ‘Du wirst mich nicht wieder los!’“
Es ist ein Montag im Juni, kurz vor elf Uhr morgens. Neun Stunden bis zur Premiere. Da spielen sie das Stück DIN-Norm, eine sehr freie Adaption von Wolfgang Herrndorfs Jugendroman Tschick. Generalprobe. Patricia ist nervös. Das sind alle. Aber sie besonders. „Ich habe Lampenfieber wie verrückt – aber wenn ich dann auf der Bühne stehe, fühle ich mich frei“, sagt sie. „Ich mache das, was ich schon immer machen wollte: Theater spielen und leben, das ist so was von schön.“ Sie mache vor der Aufführung dann alle verrückt, erzählt sie, während sie in der Garderobe die letzten Make-Up-Korrekturen über sich ergehen lässt. „Hey, sie gibt‘s zu!“, wirft eine andere aus der Gruppe ein. Die Stimmung ist ein wenig angespannt, aber freundschaftlich. Schließlich spielen die meisten schon jahrelang Seite an Seite.
Herbert Enge fing in der Spielzeit 1986/87 am Thalia-Theater an. Der damalige Intendant Jürgen Flimm holte den Theaterpädagogen an sein Haus, damit der die Zusammenarbeit mit Hamburger Schulen und einen Jugendclub organisierte. „Doch wir haben festgestellt – das hängt mit dem Medium, der Kunstform Theater zusammen – dass zunächst ausschließlich Jugendliche aus bildungsnahen Haushalten kamen“, sagt Enge. „Uns interessierte aber auch der Kontakt mit Jugendlichen, für die Theater und Kultur nicht so eine Normalität hatten.“
Eisenhans als Vorbild
Über einen halbprivaten Kontakt zum Verein „Leben mit Behinderung“ kam Enge 1993 dann dazu, dass er ein erstes Pilotprojekt mit behinderten Menschen verwirklichen konnte. Die erste Produktion setzte sich mit dem Grimm-Märchen „Der Eisenhans“ auseinander, daher stammt der Name des Projektes. Eisenhans ist ein wilder Mann, der von den Menschen als Ungeheuer verkannt wird und sein Unheil in den Wäldern des Königs treibt. Er wird gefangen genommen, landet im Kerker, bis der Königssohn ihn befreit und mit ihm auszieht, um die Welt zu entdecken. „Genau dieses Ausbrechen aus dem gewohnten Umfeld ist ein schönes Bild für das Miteinander von Behinderten und Nichtbehinderten“, erzählt Enge.
Eisenhans ist kein Selbsthilfe-Projekt, kein pädagogisches Unterfangen. Die positiven Effekte, wie das Ablegen von Schüchternheit und Ängstlichkeit, sind nur Nebenerscheinungen, die ganz von selbst vom Schauspielern kommen. Es geht darum, Theater zu machen, das alleine hat Kraft genug, die Menschen vorwärts zu bringen.
In 20 Jahren hat die Gruppe nun rund 60 Stücke einstudiert. In drei Ensembles mit bis zu 20 Darstellern und einer Band spielen 68 Menschen mit den unterschiedlichsten Handicaps. Die meisten von ihnen haben Trisomie 21, das Down-Syndrom, in den unterschiedlichsten Ausprägungen, andere sind Autisten. Begleitet werden sie außerdem von verschiedenen körperlichen Einschränkungen.
„Mit Menschen zu arbeiten, die Handicaps haben, ist wie eine Fremdsprache zu lernen“, sagt Enge über seine Arbeit. „Die anderen Sprachlichkeiten der Darsteller zu verstehen, aber auch das Verhalten zu registrieren und abzuschätzen, was jemanden interessieren könnte. Das lernt man mit jedem Projekt wieder neu.“
Ebenso lernt er die Grenzen der Mitwirkenden stets neu kennen – etwa wenn jemand etwas nicht auf der Bühne machen möchte. „Man kommt dann natürlich ins Gespräch über Sinn und Unsinn einer Szene, darüber können die Darsteller aber selbstbestimmt verhandeln und Entscheidungen treffen“. Das, so glaubt Enge, unterscheidet die Arbeit beim Eisenhans von der in Behindertenwerkstätten – da werde die Selbstbestimmung oft nicht so groß geschrieben.
Tobias ist seit über zwölf Jahren bei Eisenhans. Er ist 35 Jahre alt und liebt den Applaus. „Das geht dann direkt ins Herz“. Wie viele hier arbeitet er in einer Behindertenwerkstatt. Doch er ist voll und ganz fürs Theater entflammt und würde gern ein Praktikum als Bühnenbauer machen. „Handwerklich kann ich das ja“, erklärt er. Dieses Zeigen dessen, was man kann, ist für viele hier entscheidend, für Victoria, für Marcel, der es so beschreibt: „Auf der Bühne ist es einfach aufregend. Die Power zu haben und dem Publikum das auch zu zeigen.“
Angst und Liebe
Dabei sollen und wollen junge Regisseure wie Sophie Artl und Dennis Dringelburg die Gruppe auch ihren eigenen Zugang zum Stoff finden lassen. Was ist ein Thema für die Teilnehmer? Bei DIN-Norm geht es um Selbstständigkeit, Emanzipation, das Wohnen allein oder in einer Wohngruppe. In einer anderen Gruppe geht es um das Thema Ängste, darum, Angst einzugestehen. Die dritte Gruppe arbeitet sich an Shakespeares Sommernachtstraum ab. Es geht um Beziehungsintrigen, Liebe. Wen würde das nicht interessieren.
Clemens, mit Anfang 60 der Älteste in der Gruppe, hat einen sehr aktuellen Bezug dazu, aber das stellt sich erst später heraus. „Ich finde es hier einfach geil“, sagt er. „Man kann rauslassen, was man im normalen Leben eben nicht so rauslassen kann, weil es sonst ‘nen Strafzettel oder ein paar auf die Nase gibt.“ Zum Theater ist er durch Zufall gekommen. Vor einigen Jahren starb seine Frau, Clemens vereinsamte, schließlich kam er in eine psychiatrische Klinik. „Und dann kam ich eines Tages vom Einkaufen und wäre beinahe auf so einen kleinen Hund getreten und an der Leine hing noch eine Person dran – die habe ich kennengelernt und die spielt hier mit.“ Clemens kam mit, sah es sich an und dachte: Warum nicht? Nun ist er seit zwei Jahren dabei.
Die Frau, die ihn hierher gebracht hat, ist Dagmar. Sie ist Anfang fünfzig und seit zehn Jahren bei Eisenhans dabei. „Seit ich hier spiele, bin ich selbstbewusst geworden“, sagt sie. Geht auf Leute zu und hat keine Ängste mehr. Sie tanzt, sie schwimmt.
Clemens hatte sich sofort verliebt. Erst in den Hund. Dann in die Besitzerin. „Und dann hab ich ihn hier mit ins Theater genommen“, sagt Dagmar. Sie beugt sich etwas vor: „Und heute macht er mir vielleicht einen Heiratsantrag, nach der Premiere. Ich freue mich jetzt schon.“
Bis zuletzt wird am Stück gefeilt. Gänge verändert, über das Licht diskutiert. Um kurz vor 20 Uhr schließlich gehen die Türen des Saals des Thalia Gaußstraße auf. Das ist die zweite Spielstätte des Thalia Theaters, spezialisiert auf junges, experimentelleres Theater. Sie fasst rund 200 Zuschauer und ist an diesem Abend besetzt bis auf den letzten Stuhl. Viele sind Freunde und Angehörige der Schauspieler – die ganze Aufmerksamkeit, die das Projekt verdient hätte, hat es noch nicht.
Aber das wochenlange Proben war erfolgreich: keine Texthänger, der Ablauf klappt reibungslos. Auch Patricias Nervosität scheint wie verflogen. Licht aus. Aufbrandender Applaus. Die Zuschauer zieht es an die Bar oder auf eine Zigarette an die frische Luft, als Clemens auf die kleine Bühne im Foyer steigt und seinen Antrag mit Unterstützung einer Bauchrednerpuppe unterbreitet. Und Dagmar? Nimmt ihn an.
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