Integrationsrats-Vorsitzende über Hass: „Ich wurde als Zombie diffamiert“
Irina Schnar ist Russlanddeutsche, Vorsitzende des Integrationsrats der Stadt Göttingen und Kriegsgegnerin. Seit Wochen schlägt ihr Hass entgegen.
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taz: Frau Schnar, Sie erfahren seit Wochen Hass in den sozialen Medien. Wie fühlt sich das an?
Irina Schnar: Das ist für mich ein Schock. Ich sage mir: Du lebst doch in Deutschland! Hier herrscht Meinungsfreiheit, Demokratie! Was hast du getan, dass dir so etwas passiert?
Was haben Sie denn getan?
Als die russische Botschaft in Berlin Anfang März alle russischsprachigen Menschen aufgefordert hatte, sich bei Anfeindungen bei ihr zu melden, habe ich eine Mitteilung herausgegeben: Sie sollen sich an uns wenden, an den Integrationsrat. Die russische Botschaft löst keine Probleme, die schürt nur weitere Konflikte. Anfang April habe ich die russischsprachigen Menschen hier dann aufgefordert, nicht an den Pro-Putin-Autokorsos teilzunehmen, das Z-Symbol nicht zu verwenden und den Krieg in der Ukraine nicht zu verherrlichen. Da hat sich das zugespitzt.
Was ist geschehen?
Ich wurde als ukrainische Faschistin diffamiert, aus der russischsprachigen Community heraus, als Nazistin, als ukrainischer Zombie, als Arschleckerin der deutschen Regierung. Da wurde gesagt, dass ich mich schämen soll, dass man mich einsperren muss. Das hat mir Angst gemacht. Das sind ja Putins Worte. Aber sämtliche Kommentare habe ich an die Polizei weitergeleitet. Solche Drohungen sind psychische Gewalt.
Hat es physische Übergriffe gegeben, Stalking?
Nein, noch nicht. Aber ich weiß natürlich nicht, was passiert, wenn die Polizei die Bedroher zu Gesprächen vorlädt. Zudem hat die Stadt Göttingen die Zentralstelle zur Bekämpfung von Hasskriminalität im Internet unterrichtet. Ich bin eine bekannte Persönlichkeit hier in Göttingen und entsprechend exponiert.
Göttingens Oberbürgermeisterin Petra Broistedt (SPD) hat von einem „erschreckenden Ausmaß“ an Diskriminierungen gesprochen. Wie sieht die Unterstützung der Stadt für Sie aus?
Die steht hinter mir. Auch die demokratischen Parteien und viele Institutionen haben Unterstützung signalisiert. Vor dem 9. Mai, dem russischen Feiertag zum Sieg über das Deutsche Reich im Zweiten Weltkrieg, führen wir nochmal eine Veranstaltung gegen den Krieg in der Ukraine durch. Man darf sich in einer Demokratie nicht verstecken.
Gab es auch Unterstützer für Sie in den sozialen Medien?
Einzelne haben mich in Schutz genommen. Aber die haben dann auch Hass zu spüren bekommen.
Wie haben andere Betroffene Ihres Umfelds reagiert?
Ich weiß, dass auch einige andere Strafanzeigen wegen ähnlicher Geschehnisse gestellt haben. Aber viele sind einfach still geworden. Viele haben Angst, zu sagen: Ich bin gegen Putin, gegen den Krieg. Das macht mich wütend. Ich finde es auch schlimm, wie naiv manche Menschen sind. Manchmal kennen sie noch nicht einmal ihre eigene Geschichte.
Was hilft gegen solches Denken?
Aufklärung. Auch darüber, welches Leid die Russlanddeutschen in der Sowjetunion erlitten haben. Vor kurzem hatte ich den Fall eines Russlanddeutschen aus Kasachstan, dem ich geraten habe, am 9. Mai nicht an den russischen Feierlichkeiten teilzunehmen: Als Deutschland im Zweiten Weltkrieg die Sowjetunion überfallen hat, sind alle deutschen Männer aus der Armee entfernt worden und wurden als Feinde in Zwangsarbeiterlager gebracht. Die Behauptung, wir haben damals geschlossen gegen den Faschismus gekämpft, ist völlig falsch! Kein Vorfahre von Russlanddeutschen hat am Krieg teilgenommen. Die haben damals nicht gegen den Faschismus gekämpft, sondern gegen den Hunger, im Lager.
War Ihre eigene Familie damals auch betroffen?
Im Zweiten Weltkrieg wurden meine Großeltern in die Zwangsarbeit deportiert; der älteste Bruder meines Großvaters wurde wegen seiner deutschen Herkunft erschossen. Da kriegt man schon Angst, wenn man selber plötzlich so diffamiert wird. Das ist, als ob dich die Geschichte einholt.
Wie gestaltet sich derzeit Ihr Kontakt zur russischsprachigen Community?
Der ist schwierig. Viele informieren sich sehr einseitig. Viele sagen insgeheim, dass sie gegen den Krieg sind. Aber viele sagen zugleich: Was Putin macht, ist schon gut.
Ist Ihre Arbeit derzeit eingeschränkt, weil sie zu gefährlich ist?
Ich bin eine starke Frau. Mein Motto war immer: Kämpfen, nicht aufgeben! Ich setze meine Arbeit fort. Ich lasse mich nicht unterkriegen.
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