Integration ins Bildungssystem: Flüchtlingsschüler zu lange unter sich
Hamburg will zugewanderte Kinder in internationalen Vorbereitungsklassen für die Schule fit machen. Doch besonders für ältere Kinder wird Integration wird so eher verhindert. Wie es anders geht, macht Bremen vor.
„Ich habe in Syrien die 10. Klasse fertig gemacht“, berichtet Yasan. Aus Angst vor dem Krieg verließ er das Land. Zusammen mit Basim kam er im März 2015 in eine „internationale Vorbereitungsklasse“, die an der Finkenwerder Schule eingerichtet worden war. Doch die Zeit dort sei nicht sehr sinnvoll gewesen. „Ganz ehrlich: Wir haben da wenig gelernt. Da waren außer uns Afghanen, Iraker, Polen, keiner konnte Deutsch reden.“ Nur der deutsche Lehrer hätte die Sprache gekonnt. „Da bringt jeder jedem noch was Falsches bei“, sagt sein Freund Basim. „Meiner Meinung nach muss keiner länger als vier Monate in der Vorbereitungsklasse bleiben.“
Wir sitzen im Nebenraum der 10. Klasse, die Basim jetzt besucht. Durch ein großes Fenster ist zu sehen, wie seine Mitschüler Englisch lernen. Man hört eine lustige Sprach-Lern-CD. Englisch ist nicht sein Lieblingsfach, er hat dort eine vier auf gymnasialem Niveau, sonst nur Einsen und Zweien. Der Junge sei in Mathematik hochbegabt, sagt seine Lehrerin.
Abitur ist das Ziel
Bildung ist Ländersache, deswegen geben diese seit Jahren unterschiedlich viel Geld dafür aus. In Hamburg waren es 2014 zum Beispiel 8.500 Euro pro Schüler, in Bremen 6.500 Euro.
Das ohnehin schon arme Land Bremen hat von 2014 bis Ende 2016 5.808 zugewanderte Schüler aufgenommen, proportional mehr als alle anderen Länder.
109 Vorkurse gibt es dort an allgemeinbildenden Schulen, 61 an Berufsschulen und fünf an Erwachsenenschulen. Ein Kind im Vorkurs hat immer schon einen Platz in einer Klasse und dort stundenweise Unterricht.
Außerdem gibt es 15 Hausbeschulungskurse in Flüchtlingsunterkünften. Der Flüchtlingsrat Bremen fordert auch für diese Kinder den Schulbesuch.
In Bremen fehlen Lehrer, deswegen sind viele Studierende an Schulen und in Vorkursen eingesetzt.
Die Bremer Linke-Politikerin Kristina Vogt kritisiert, dass geflüchtete Kinder nach den Vorkursen im Unterricht kaum Sprachförderung haben. „Kinder, die wissen, wie man Banane buchstabiert, können nicht automatisch dem Fachunterricht folgen.“ In Hamburg bekommt jedes integrierte Flüchtlingskind eine minimale Sprachförderung.
Beide Jungen konnten ihre Abschlusszeugnisse aus Syrien vorlegen und deshalb seit Sommer 2015 eine normale Klasse besuchen: Yasan eine 10. und der etwas jüngere Basim eine 9. Seit diesem Schuljahr ist Yasan in die 11. Klasse aufgerückt, und Basims Noten sind so gut, dass er im nächsten Schuljahr folgen wird. Was sein Ziel für die Zukunft ist? „Abitur“, sagt Yasan. „Mehr ist dazu nicht zu sagen.“ „Abitur und ein perfekter Schnitt“, ergänzt Basin. Er möchte Medizin studieren.
Szenenwechsel: Im Nachbargebäude lernt eine internationale Vorbereitungsklasse, die der Klasse neun entspricht. Es ist kurz nach zehn Uhr, die dritte Stunde hat schon begonnen. Konzentriert sitzen 14 Schüler im U-förmigen Tische-Kreis über ihren Arbeitsheften. Daneben ein Smartphone, jeder darf unbekannte Wörter nachgucken.
Das Konzept der Hamburger Schulbehörde sieht vor, dass die geflüchteten und zugewanderten Schüler ab Klasse 9 nicht mehr in Regelklassen übergehen – wie Yasan und Basim – sondern zwei Jahre bis zur zehnten Klasse unter sich bleiben und am Ende machen, was früher mal Hauptschulabschluss hieß und jetzt Erster allgemeinbildender Schulabschluss.
Der Besuch passt gerade nicht. Die Schüler hatten morgens schon zwei Stunden Ausfall und wollen an ihren Aufgaben arbeiten. Lehrerin Sonja Saatthoff geht von Schüler zu Schüler und hilft bei Fragen. Jeder hat unterschiedliche Voraussetzungen, ist auf einem anderen Stand.
Ein in sich geschlossenes System
Also erst mal Kaffee trinken im Lehrerzimmer. Er findet das System nicht gut, sagt Lehrer Sven Baake, der eine dieser Vorbereitungsklassen führt. „Dieser Unterricht ist für die Schüler wie Fremdsprachenunterricht“, sagt er. Es entstehe ein „in sich geschlossenes System, quasi eine Schule in der Schule“. Er wünsche sich sehr für seine Schüler einen Deutsch sprechenden Hamburger zum Freund.
Die 16-jährige Nasrin* zum Beispiel ist so lange wie Yasan und Basim an der Schule, doch sie ist bei Sven Baake in der Vorbereitungsklasse geblieben. In Syrien war sie in der 7. Klasse, als ihre Fluchtgeschichte begann, darum hat sie keinen syrischen Abschluss. Nun möchte sie Kinderpflegerin werden. Ihre beste Freundin ist eine Irakerin aus der 8. Klasse, mit der sie sich auf Arabisch unterhalten kann. Arm im Arm gehen die Mädchen in der Pause über den Schulhof, Nasrin trägt zum schwarzen Mantel ein helles Kopftuch, ihre Freundin offenes Haar.
Wie kann Integration in Schule am besten gelingen? Zu dieser Frage gibt es in den nächsten Tagen in Hamburg und Bremen einen taz-Salon. Sven Baake ist GEW-Mitglied und hat dazu schon im vorigen Sommer ein Papier verfasst. Das Hamburger System, findet er, sei zu starr. Er fordert, die Vorbereitungsklassen abzuschaffen.
Schulbehörde: Integration läuft gut
Denn das Argument, dass die Kinder hier einen Schutzraum hätten und Deutsch lernten, könne nur für einen begrenzten Zeitraum gelten. Statt dessen müsse für jedes Kind ein Platz in einer Regelklasse freigehalten werden. Es drohe sonst eine „MigrantInnenschule“, heißt es auch in einem Beschluss der Hamburger GEW-Gewerkschaftstages vom April. Gut als Perspektive für die Zukunft sei eine Ablösung der Extra-Klassen durch ein offenes Sprachförderzentrum an der Schule, wo die Kinder Deutsch als Zweitsprache lernten und schrittweise in normale Klassen integriert würden.
Besonders schlecht sei das System für ältere Kinder, sagt Baake. „Die Integration von Kindern, die über 15 sind, findet praktisch nicht statt.“ Der Weg von Yasan und Bazim, die Abschlusszeugnisse vorweisen könnten, sei die seltene Ausnahme. Noch schwieriger werde es für über 16-Jährige. Bei dieser Altersgruppe sieht Hamburg regelhaft eine Ausbildungsvorbereitung vor.
In der Hamburger Schulbehörde ist man stolz auf das Modell. Das Konzept der Vorbereitungsklassen, bei denen die Hälfte der Schüler mit gleicher Lehrerzahl wie einer normalen Klasse lernt, habe sich seit den 1990ern bewährt. „Die Integration ist in vollem Gange und läuft nach bisherigem Kenntnisstand gut“, sagt Landesschulrat Thorsten Altenburg-Hack. Solange die Kinder und Jugendliche lediglich über rudimentäre Sprachkenntnisse verfügten, seien die separaten Vorbereitungsklassen „zielführend“.
Auch Gymnasien nehmen Flüchtlingsschüler
Und es ist eben überhaupt ein Angebot, das in kurzer Zeit geschaffen wurde. An über 150 Schulen gibt es inzwischen diese Klassen , darunter auch an 39 Gymnasien, die auch „sehr motiviert“ seien, so Altenburg-Hack. Dabei werden die Kinder nach Doppel-Jahrgängen eingeteilt. Kinder im Schulanfängeralter werden noch direkt in die normalen ersten und zweiten Klassen aufgenommen. Danach gibt es Vorbereitungsklassen für die Jahrgänge 3 bis 4, 5 bis 6 und 7 bis 8. Nach spätestens einem Jahr können die Kinder in eine normale Klasse wechseln – nur eben nicht in den Vorbereitungsklassen 9 und 10, deren Ziel der Hauptschulabschluss, oder, an anderen Schulen als in Finkenwerder, auch der Mittlere Schulabschluss ist.
Zurück in der Vorbereitungsklasse von Sonja Saathoff. Die Arbeitsblätter sind abgearbeitet, Saathoff hat für die Schüler ein paar Fragen an die Tafel geschrieben. Seit wann sind sie hier, wo kommen sie her, was möchten sie erreichen? Die Runde ist schnell um. 15- und 16-jährige Jungen und Mädchen aus Syrien, Polen, Afghanistan, China, Vietnam und Togo lernen hier. Und als die Lehrerin fragt, wer Abitur machen will, gehen alle Hände hoch. Doch sie brauchen nach der vorgesehenen Systematik noch anderthalb Jahre, bevor sie nach dem Hauptschulabschluss in eine normale 10. Klasse wechseln können. „Hier sind Schüler, die unfassbar fleißig sind“, sagt Saathoff. „Die könnten in ihrem Heimatland Abitur machen.“
In der Freizeit in die Bibliothek
Allerdings ist es im Regelunterricht für sie auch nicht leicht, davon können Yasan und Basim ein Lied singen. „In der Oberstufe gibt es nichts mehr“, sagt Yasan. Er meint damit: keine Unterstützung, keinen Nachteilsausgleich wie beispielsweise längere Zeit zum Lesen der in Deutsch formulierten Aufgaben bei einer Klausur. Eine Zeit lang sind sie jeden Nachmittag über die Elbe zur Zentralbibliothek am Hauptbahnhof gefahren, um an einem der Lesetische für drei, vier Stunden zu lernen. „Wir haben Fachbegriffe übersetzt und Arbeitsblätter durchgearbeitet“, berichtet Yasan. „Uns fehlt die Fachsprache.“ In Fächern wie Geografie oder Geschichte habe er nun Dreien im Zeugnis. Er scherzt: „Ich bin nicht befreundet mit diesen Fächern.“
In Syrien müssten Schüler anders lernen, sagt Basim. Referate oder Gruppenarbeit gebe es dort nicht. „Die wiederholen nichts, wir müssen dort genau nach Buch lernen.“ In Deutschland sei es einfacher vom Stoff her, „aber unser Problem ist die deutsche Sprache“. Und das Smartphone auf dem Tisch, die Erfahrung hat Yasan gemacht, wird von den Lehrern der Oberstufe nicht mehr toleriert. Beide überlegen nun, möglichst einfache Abiturfächer zu wählen. Sport zum Beispiel. „Da muss man nur laufen.“
Da sie auch Englisch nur als Schulfach können, sei auch dies keine Hilfe. Auf welcher Sprache sie denn denken? „Ich nur auf Arabisch“, sagt Yasan. Der stillere Basim überlegt. „Wenn ich abends im Bett über die Schule nachdenke, dann denke ich auf Deutsch.“ Die Schule müsse sich diesen Kindern und ihrer Lage anpassen, sagt Basins Lehrerin Sabine Meyer, die zugleich Förderkoordinatorin ist. Die zugewanderten Schüler bräuchten auch in der Oberstufe noch gezielte individuelle sprachliche Unterstützung. Meyer: „Die Praxis zeigt uns hier, was gebraucht wird.“
Schule hat für die Kinder eine wichtige soziale Funktion. Für Yasan zum Beispiel war es die Konstante in seinem Leben, während er zunächst als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling in einer Jugendeinrichtung lebte und dann, als seine Familie nachkommen durfte, über Monate mit vielen Menschen in einer früheren Baumarkthalle. Für fast 1.000 Kinder, die in diesen Erstunterkünften leben, gab es über lange Zeit gar keine Schule außerhalb ihres Camps, weil die Zuweisung erst mit dem Umzug in eine Folgeunterkunft beginnt. Erst Ende Oktober steuerte die Stadt Hamburg um. Binnen dreier Monate gelang es der Behörde, 443 Plätze in Vorbereitungsklassen zu schaffen.
Ab dem ersten Tag in der Klasse
Auch die viel ärmere Stadt Bremen hat Probleme, zügig ausreichend Personal und Platz für geflüchtete Schüler bereitzustellen. Doch konzeptionell ging sie die Sache anders an. „Bei uns werden die Kinder vom ersten Tag an ins Regelsystem übernommen“, sagt Scharajeg Ehsasian, die in der Bremer Schulbehörde für die Verteilung zuständig ist. Die Kinder lernen in einem „Vorkurs“ die deutsche Sprache, jeden Tag vier Stunden. Den Rest des Schultages verbringen sie in einer normalen Klassengemeinschaft. Am Anfang nehmen die Flüchtlinge nur am Sport- oder Musikunterricht teil. Je nach Sprachniveau und Kenntnisstand kommen Stück für Stück andere Fächer hinzu.
„So stellen wir sicher, dass die Flüchtlingskinder vom ersten Tag an Kontakt zu den deutschen Schülern haben“, sagt Ehsasian. Die 28-jährige Politologin wurde selbst als Kind iranischer Flüchtlinge in einer Notunterkunft geboren, sie kennt die Probleme der Ausgrenzung aus dem Bildungssystem. Der Vorkurs dauert in der Grundschule ein halbes Jahr, in der Oberschule – so heißt die Bremer Gesamtschule – ein ganzes. Doch in beiden Fällen gehören die Kinder schon zu einer Klasse der Schule.
Das Handlungskonzept für Bremen fußt auf einer Expertise, welche die Erziehungswissenschaftlerin Yasmin Karakasoglu 2011 für die Stadt erstellte. „Schule muss sich darauf einstellen, dass es immer wieder Neuzugezogene gibt“, sagt sie. Und nach Möglichkeit geschehe dies im Regelsystem und nicht in einem Parallelsystem.
Auf dem Schulhof Spielgeräte besetzt
Doch auch in Hamburg gibt es Schulen, die diesen Weg gehen. Die Grundschule Langbargheide in Lurup zum Beispiel bekam vor einem Jahr Vorbereitungsklassen zugewiesen. „So wie das sein sollte, lief das bei uns eigentlich überhaupt nicht“, berichtet Schulleiterin Annette Berg. „Die Kinder haben sich nicht an Regeln gehalten, es war dort keine Struktur reinzukriegen.“ Die geflüchteten Kinder hätten auch auf dem Schulhof Spielgeräte besetzt und andere nicht rangelassen. „Man merkte, die haben gelernt zu kämpfen, aber es fehlte ihnen die Sprache.“
Eine Lehrerkollegin, die selbst aus Afghanistan kommt, habe dann den Anstoß gegeben. „Sie sagte: ,Ich bin mit zehn nach Deutschland gekommen und habe erst angefangen zu lernen, als ich nichts Besonderes mehr war'.“ Die Kinder der ersten und zweiten Klassen waren ohnehin integriert, doch das Kollegium beschloss nun, auch die Vorbereitungsklassen der Stufe 3 bis 4 aufzuteilen. Die Luruper Schule arbeitet ohnehin „jahrgangsübergreifend“ und hat acht Klassen der Stufe 3 bis 4. Jede dieser acht Klassen bekam nun zwei Kinder aus einer Vorbereitungsklasse dazu. „Jetzt läuft es gut“, sagt die Rektorin. „Die Kinder lernen super Deutsch, und die Regeln und Rituale des Unterrichts geben ihnen Sicherheit.“ Zusätzlich bekommen die neuen Schüler stundenweise Sprachförderung. „Die Kinder baden den ganzen Tag in Sprache“, erklärt Annette Berg. „Und wir haben kein Stress mehr auf dem Schulhof.“
Die taz wird herumgeführt, erste Station: die „Wölfe“ im Erdgeschoss eines alten Kreuzbaus. Das ist eine Klasse, in der Vorschüler, Erstklässler und Zweitklässler zusammen lernen, darunter vier Geflüchtete. Wie das klappt mit dem Lernen, wenn ein Kind aus einem anderen Land kommt, will die Reporterin wissen. Doch das ist hier offenbar nichts so Besonderes. Zwei Kinder stellen sich vor, auch ein Junge, der in Deutschland geboren ist, aber dessen Eltern aus einem osteuropäischen Land kommen. „Na, ich rede ja wohl auch Russisch mit meinen Eltern“, mischt ein anderer Junge sich ein.
Buchstaben in der Basisklasse
Nach einer kurzen Runde im Sitzkreis teilt die Lehrerin die Kinder ein. Einige üben mit einem Kartenspiel die Buchstaben, andere die Bildung von Silben oder das Lesen von Wörtern. Diese Schritte sind auf der „Leseleiter“ nachzulesen, die an der Wand hängt. Ein Kind liest noch gar nicht. Es sitzt bei der Lehrerin am Tisch und stellt nach einer Musterkarte bunte Klötzchentürme auf. Das Kind habe Schweres erlebt, brauche ihre Nähe, sagt die Lehrerin Susanne Matzen-Krüger. Sonst sind kaum Unterschiede zwischen den Kindern zu sehen.
Ein Stockwerk drüber heißt die Klasse „Die Buchen“. Hier können die Kinder schon recht gut lesen. „Märchenwerkstatt“ steht auf dem Plan. Die Lehrerin hat eine große Kiste mit Bilderbüchern mitgebracht. „Lies ein Märchen und denke dir eine Frage dazu aus“, heißt eine Aufgabe. Ein Junge will Fragen zu Rotkäppchen stellen. Mila* ist das geflüchtete Kind in der Klasse. „Es wäre gut, wenn jemand Mila* das Märchen Rotkäppchen erzählen könnte“, sagt die Lehrerin Sabine Elig. Eine Schülerin meldet sich, geht mit Mila* in den Nebenraum. Sehr schnell kommen sie wieder, denn Mila kennt das Märchen schon.
Zunächst soll sie Karten mit Silben zu Worten sortieren „Pi-“ mit „-lot“ zu „Pilot“ zum Beispiel. Stufe drei auf der „Leseleiter“, sie ist recht schnell damit, notiert die Wörter mit kleinen Bildchen in ihr Heft. Das Mädchen ist neun oder zehn, kann schon Deutsch sprechen, weiß sich zu helfen. Die Stunde geht dem Ende zu, der Junge stellt seine Rotkäppchen-Frage: „Warum ist der Jäger zum Haus der Großmutter gegangen?“ Mila* meldet sich: „Was heißt Jäger?“
Aber fehlt den Kindern ohne die geschlossene Vorbereitungsklasse nicht auch ein Jahr Schonzeit? „Wir haben Spielraum, wie wir die Kinder die einstufen, mehr auf Stufe drei oder vier“, sagt Schulleiterin Berg, je nachdem könnten die Kinder ein Jahr länger bleiben. Nicht sinnvoll sei es, sie mit Beginn der Pubertät noch in der Grundschule zu halten. Das heißt, entweder geht es in die fünfte Klasse einer Stadtteilschule, eines Gymnasiums oder in die Vorbereitungsklasse 5 bis 6. „Das wird bei jedem Kind anhand der individuellen Entwicklungspläne entschieden.“
Eine Etage höher, im obersten Stock des Kreuzbaus, sind die „Kiefern“, die Buchen-Klassensprecherinnen bringen mich hin. Hier gibt es nun doch eine Sonderform: die Basisklasse, für Kinder, die noch nicht lateinisch alphabetisiert sind. Zwölf Monate lernen sie hier gezielt die Buchstaben kennen, bevor sie zu den anderen Kindern kommen. Da die Kinder schon älter sind, gehe es schneller als bei Erstklässlern, sagt Lehrerin Lisa Radig.
Lehrer gehen auch in Erstunterkunft
Auch hier wieder eine nette Begrüßungsrunde im Sitzkreis. Zehn Kinder aus Afghanistan, Irak und Syrien, alle neun, zehn oder elf Jahre alt, fast alle schon ein Jahr oder länger in Deutschland. Manche kennen die Lehrerin Radig schon, weil sie morgens auch eine Lerngruppe in der Erstunterkunft Schnackenburgallee unterrichtet. Manche kommen auch aus anderen Städten. Nadim* erzählt aufgeregt, dass er die kleine Hannah* von dort kennt. Was gut ist an der Schule? „Gut sind Lehrer“, sagt Nadim. Aber es gebe Kinder, die nicht gut sind. „Es gibt Kinder, die spielen nicht mit mir.“ Ein Junge neben ihm seufzt und sagt auf: „Wir sollen nicht hauen, und nicht schlagen und nicht beleidigen.“ Und nicht schubsen, und leise sein, und lernen, nicht stressig zu sein, diese Regeln stehen auch hinter ihm an der Wand.
Die Stunde ist vorbei. Die Kinder flitzen die Treppen runter nach draußen. Die Reporterin geht auch, doch die Tür ist zu, und sie muss durch den Hinterausgang und einen Umweg über den Schulhof nehmen. Neben dem Hausmeisterbüro spielt eine Gruppe Kinder etwas Abseits im Gebüsch, ein Baumstamm ist der Tisch, darauf liegen Filzstifte und kleine Zettel. Mit dabei sind Hannah und ihre um einen Kopf größere Freundin, die die anderen dirigiert.
Was sie da Geheimes machen? Hannah lacht verlegen. „Wir spielen Schule.“
Lehrer Sven Baake hat von der Luruper Lösung gehört. „In Grundschulen wird immer viel erlaubt“, sagt er. „Ich wünschte mir, das so etwas auch bei uns möglich ist.“
*Namen geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“