Inszenierung „Dionysos Stadt“: Tot waren am Ende die Meisten
Theater mit Wellnessfaktor: Mit einer Überdosis Antike starten die Kammerspiele München in die vorletzte Spielzeit von Matthias Lilienthal
Zehn Stunden oder auch 600 Minuten: Man könnte in dieser Zeit über 7.700 Kilometer von München nach Peking fliegen. Oder mit dem Zug von Nord nach Süd durch ganz Deutschland fahren. Oder man nutzt diese Zeit dafür, sich mit dem Theatermarathon „Dionysos Stadt“ eine Überdosis Antike reinzuziehen.
Wer sich mit einem so monströs langen Theaterbesuch konfrontiert sieht, grübelt erst einmal über profane Fragen: Wird man Hunger und Durst leiden müssen? Was tun, wenn der Sitznachbar nervt? Ab welcher Stunde schmerzt der Rücken oder kribbeln die Füße? Schläft man vielleicht irgendwann ein?
Halb so wild ist dann der Praxistest: Was auf den ersten Blick nach Tortur klingt, wird von den Theatermachern mit Wellness-Elementen versüßt. Die Langstrecke ist in vier übersichtliche Teile portioniert, bei denen der längste Abschnitt überschaubare zweieinhalb Stunden dauert. In den kurzen Pausen werden Zucchiniröllchen, Hirsebällchen und Humus-Crustini serviert, in der langen Pause kann sogar ein Menü verzehrt werden. Auf der Bühne steht eine Raucherbank, auf der man während des Stückes rauchen kann, wenn eine daneben installierte Ampel grünes Licht zeigt.
Die Tour de Force in die Antike beginnt um 13 Uhr mit einem Prolog des Schauspielers Nils Kahnwahl. Im lockeren Plauderton kündigt er an, dass wir alle im Zuschauerraum in hundert Jahre tot sein werden. Womit er hundertprozentig recht haben wird. Nicht ganz recht behält er dagegen mit einer anderen Behauptung: Dass einige der Zuschauer um kurz vor elf Uhr abends vermutlich gar nicht mehr da sein werden. Tatsächlich verlassen nur wenige ZuschauerInnen den Saal vorzeitig, fast alle harren aus und feiern das Ensemble am Ende begeistert. Ein älterer Mann, der eine Stunde vor Schluss „Es reicht“ ruft, bleibt der einzige Störenfried an diesem Abend.
Seifenoper folgt Lärmgewitter
Das Publikum fügt sich brav dem Anliegen von Regisseur Christopher Ruping, sich auf das geballte Textmonstrum einzulassen, eine Mischung von Texten wie der „Ilias“ von Homer, „Agamemnon“ und „Prometheus gefesselt“ von Aischylos, aber auch von Johann Wolfgang von Goethe und Heiner Müller.
Das ist mal nervtötend, wenn Peter Brombacher als Schicksalsgöttin Moira die Gemetzel-Litanei des ersten trojanischen Kriegs unter dem grauenhaft lauten Schlagzeug-Lärm von Matze Pröllochs gutmütig herunterbetet und man irgendwann überhaupt nicht mehr weiß, wer nun wem den Schädel eingeschlagen hat. Vermutlich auch egal. Tot waren am Ende die meisten, die Stadt Troja niedergebrannt. Krieg im Theater darzustellen ist ja auch immer so eine Sache. Hier gelingt es zumindest so gut, dass man sich ein Ende des Krawalls herbeisehnt.
Zum Glück ist das Lärmgewitter dann überstanden und man darf sich erholen, wenn das Schicksal der Orestie als Seifenoper persifliert wird, womit der kurzweilige Teil drei bei Laune hält. Wie Klytaimnestra mit ihrem Geliebten Aigisthos ihren aus dem Krieg zurückgekehrten Ehemann Agamemnon in der Badewanne ermordet, mutiert zum Gag, wenn der Gemeuchelte mit ein paar Eimern Kunstblut quasi ersäuft wird.
Tanzen und kotzen
Irgendwann wird der Kreislauf des Mordens durchbrochen und es wird eine Big Fat Greek Wedding gefeiert, weil ja Elektra und Pylades heiraten. Blöd nur, dass den beiden am Tag danach die Hinrichtung droht. Nils Kahnwahl darf dann als Orestes untenrum frei über die Bühne tanzen, Majd Feddah als Thyestes in die Toilette kotzen, weil er gerade irrtümlicherweise seine von Atreus ermordeten Kinder verspeist hat und Gro Swantje Kohlhof als Hermione Selfie-Videos drehen.
Nach neun Stunden hat es sich dann auserzählt mit der Antike. Während der Sitznachbar noch frohlockt, diese Aufführung könne noch die ganze Nacht weitergehen, kicken sich die Schauspieler nun eine halbe Stunde schweigend auf einem Rasenfeld den Ball zu, schießen Tore oder auch nicht, was man erst mal nicht kapiert. Dann erfährt man, dass sie das WM-Endspiel zwischen Frankreich und Italien 2006 reenacten. Es geht nun um den Kopfstoß des frustrierten Zinédine Zidane, den er seinem Kontrahenten Marco Matterazi verpasste, einer, wie wir hören, prosaischen und romanhaften Geste, denn irgendwie ist auch der französische Fußballer ein antiker Held. Am Ende geht auf dem Bildschirm-Mosaik des Bühnenbilds die virtuelle Sonne auf.
Rüpings Mammutstück ist ein Genre-Remix aus Klamauk, Improvisation, Mitmachspaß und Tragödie, der gut aufgeht, weil er keck viele Genres mischt und mit seinem sehr jungen Ensemble – die einzige Ausnahme ist das Kammerspiele-Urgestein Peter Brombacher –, das voll in dem Stoff aufgeht und stellenweise manisch-exzessiv, dann aber wieder reflektiert und eindringlich agiert. Dass das Publikum im nicht komplett ausgefüllten Haus an diesem Experiment munter partizipiert, die Inszenierung heftig beklatscht und nicht gemeckert wird, zeigt, dass das Konzept von Intendant Lillienthal in seiner dritten und vorletzten Spielzeit vielleicht doch noch aufgeht.
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