Innerjüdische Debatten: Es braucht sichere Räume
Jüdinnen und Juden streiten, wann Menschen als jüdisch verstanden werden sollten. Warum sich auch viele nichtjüdische Stimmen in die Diskussion einmischen.
A nfang 2020 eroberte die Serie „Unorthodox“ deutsche Bildschirme. Die Geschichte über Esty und ihre Flucht aus dem ultra-orthodoxen Judentum in New York nach Berlin bot den Zuschauer:innen einen Einblick in eine jüdische Welt, die selbst vielen Jüdinnen:Juden verschlossen bleibt. Nur wenige haben Berührungspunkte mit der chassidischen Gruppe „Satmer“. Laura Cazès und Jakob Baier konstatieren in ihrem Beitrag „Deutsche, die auf Juden starren“, dass „der Blick in das exotisch anmutende Innenleben einer jüdischen Gemeinde“ die Zuschauer:innen in ihren Bann zog.
Die aktuell im Feuilleton geführte Debatte bietet einen Anlass, um einige Gedanken von Cazés und Baier zu aktualisieren. Maxim Biller, der kürzlich mit seinem Roman „Der falsche Gruß“ in die Buchläden kam, hatte dem jüdischen Aktivisten Max Czollek abgesprochen, jüdisch zu sein. Im Anschluss daran äußerte sich auch Josef Schuster, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, der auf die Regeln der Halacha verwies, des jüdischen Religionsgesetzes.
Viele jüdische Stimmen diskutierten daraufhin, unter welchen Voraussetzungen (ob durch religiöse Gebote oder durch Kultur und Sozialisation) Menschen als jüdisch verstanden werden sollten. Hierzulande existiert ein schmaler Korridor für Sichtbarkeit von Jüdinnen:Juden. Sie werden darauf begrenzt, Betroffene von Antisemitismus oder Auslandsvertretung Israels zu sein. Die Komplexität jüdischer Erfahrungen findet darin keinen Platz.
Jüdisches Leben in Deutschland wird in der Geschichte auf die Zeit des Nationalsozialismus reduziert. Die Auseinandersetzung mit jüdischer Religion oder Kultur erhält dadurch etwas Fremdes, etwas Exotisierendes. Einen Erklärungsversuch dafür, dass das Judentum trotz des vermeintlich „christlich-jüdischen Abendlandes“ für „Anders“ gehalten wird, liefert der deutsch-jüdische Historiker Dan Diner.
schreibt seine Doktorarbeit zu queer-jüdischem Leben und engagiert sich im jüdisch-aktivistischen Medienprojekt „Laumer Lounge“. Außerdem arbeitet er gerade an seiner ersten Buchpublikation.
beschäftigt sich seit vielen Jahren mit rechtsextremen Strukturen, war bis 2021 Vizepräsident der Jüdischen Studierendenunion Deutschland und der European Union of Jewish Students.
1987 – in den Wehen der sogenannten 'Wiedervereinigung’ und des wiedererstarkenden deutschen Nationalismus – schrieb Diner von der „negativen Symbiose“. Er erklärte, dass von den Nationalsozialist:innen eine Verbindung zwischen „Juden“ und „Deutschen“ geschaffen wurde, die „auf Generationen hinaus [das Verhältnis] beider zu sich selbst, vor allem aber zueinander, prägen“ würde.
Nach der Shoa sollte der Blick auf Jüdinnen:Juden durch diese Symbiose geprägt sein. „Deutsche, die auf Juden starren“, wobei Jüdinnen:Juden dabei nur als Spiegel für die eigenen national-identitären Konflikte dienen. Und diese Erkenntnis trifft uns mit aller Wucht in der Gegenwart. Ohne sie ist nicht zu verstehen, warum sich in die aktuelle Debatte um die Frage „Wer ist Jude?“ auch so vielen nichtjüdische Stimmen auf polemische Weise mischen.
Hier geht es nicht nur um einen innerjüdischen Konflikt mit offenem Ausgang, sondern darum, wie die Gesellschaft jüdisches Leben zu instrumentalisieren versucht. Am klarsten zu erkennen ist das bei denjenigen, die jetzt mit erhobenem Zeigefinger rufen: „Ich wusste es, die Juden sind auch Rassisten.“
Die Debatte um jüdische (Nicht-)Zugehörigkeit findet nicht im luftleeren Raum statt, sondern in einer Gesellschaft, die sich anmaßt, die höchste Entscheidungsgewalt darüber zu haben, wer, was und wie jüdisch ist. Im Hinblick auf „Unorthodox“ erklären Cazès und Baier, dass eine „mehrheitsgesellschaftliche Perspektive […] sich derzeit munter an einem nie dagewesenen Einblick in eine fremde, exotische Welt“ erfreue, die aber einem „eigenen German Gaze“ unterliege.
Anders ist es nicht zu erklären, dass das „jüdische Fremde“ immer wieder Gegenstand öffentlicher Debatten wird. Das ist vor allem deshalb möglich, weil das „Starren“ auf uralte Seh- und Denkgewohnheiten aufbaut. Das „Jüdische“ dient seit über zweitausend Jahren dazu, die eigene Position und die eigene „Identität“ zu erklären. Es ist das dem Eigenen Nichtidentischen, in dem sich alles findet, was man selbst nicht ist, nicht sein will oder gerne wäre.
Es ist nicht nur der Spiegel, sondern ein Tablett, auf dem sich alles sammelt, was man sich zu bewundern verwehrt, aber doch gerne wäre. Wenn nun im Kontext der deutschen Gesellschaft eine Debatte über jüdische Zugehörigkeit geführt wird, dann knüpft das an die verdrängten Krämpfe/Konflikte deutscher Identität an. Denn diese ist unaufhörlich an Jüdinnen:Juden und die Shoa geknüpft. Damit ist sie krisenhaft unheilbar.
Wenn nun Jüdinnen:Juden in der Öffentlichkeit über Zugehörigkeit streiten, bietet diese – für jüdische Communities wichtig zu führende – Auseinandersetzung für die deutsche Gesellschaft eine Projektionsfläche für die Aufarbeitung der Vergangenheit. Wenn Deutsche auf Jüdinnen:Juden starren, wie es gerade geschieht, dann um zu finden, was die nationale Identität nicht hergibt:
Eine Entlastung, weil Jüdinnen:Juden angeblich moralisch verwerflich handeln, oder weil eine Art der Zugehörigkeit ohne Widersprüche phantasiert wird: Jüdinnen:Juden als homogene Gruppe. Die einzelnen Beiträge der Debatte zeigen dagegen, wie vielfältig Geschichten und wie komplex Zugehörigkeit ist. Die wirkliche Auseinandersetzung muss deshalb an Orten stattfinden, die fernab der Öffentlichkeit und des Starrens liegen.
Das Kompetenzzentrum der ZWST (Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland) schafft einen solchen Ort, indem es einen „Safe Space für Zugehörigkeitsdebatten“ veranstaltet. Im Aufruf hieß es: „Viele Menschen fühlen sich von dieser Debatte berührt und bekunden den Bedarf an einem innerjüdischen Raum und Erfahrungsaustausch“.
Dieser offen gestaltete, aber dennoch innerjüdische Raum bietet eine Ausnahme, die einen angemessenen Umgang mit der Vulnerabilität der Gruppe findet, über deren Köpfe hinweg hier gestritten wird. Denn der Druck des nichtjüdischen Starrens sorgt dafür, dass es viel Vertrauen braucht, um sprechen zu können. Bisher findet es nur in vielen, voneinander abgeschnittenen Räumen statt.
Das Kompetenzzentrum könnte jetzt vielleicht einen größeren Raum eröffnen, der die vielen abgeschnittenen Gesprächsfäden zueinander führt. Fernab der Social Media Debatten können sich Betroffene mutig genug fühlen, um über ihre Fragen und Identität zu sprechen. So etwas ist unter den wachsamen Augen nichtjüdischer deutscher Diskurse kaum möglich.
Besonders auf Twitter waren es nichtjüdische Deutsche, die mit Eifer schnell Position bezogen und vor allem für sich selbst Definitionsmacht behaupteten. Sie sprachen Menschen das Jüdischsein ab oder meinten, ein solches Jüdischsein bestätigen zu können. Obwohl es sich hierbei um eine jüdische Debatte handelt, hielt es die Mehrheitsgesellschaft nicht davon ab, die rabbinische Autorität zu spielen und die Frage zu beantworten „Wer ist Jude?“
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