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Inklusion in der Klimakrise„Keiner spricht über die behinderten Klimatoten“

Behinderte Menschen sind bei Extremwetter besonders gefährdet. Der Katastrophenschutz beachtet das kaum, kritisiert Expertin Maria-Victoria Trümper.

Warnsysteme sind nicht barrierefrei: Zum Beispiel hören Gehörlose das Martinshorn nicht Foto: Robert Michael/dpa
Interview von Andrea Schöne

taz: Frau Trümper, das Risiko, bei einer Naturkatastrophe zu sterben oder schweren Schaden zu nehmen, ist für behinderte Menschen bis zu viermal höher als für Nichtbehinderte, haben Wis­sen­schaft­le­r*in­nen der US-Uni Harvard festgestellt. Woran liegt das?

Maria-Victoria Trümper: Viele behinderte Menschen leben immer noch in Sonderstrukturen wie Behinderteneinrichtungen und unser soziales Leben ist überhaupt nicht barrierefrei. Daher werden wir oft übersehen – auch in den Strukturen des Katastrophenschutzes. In Evakuierungsplänen werden Menschen mit Behinderungen höchstens als Objekte gesehen, statt sie durch die richtigen Rahmenbedingungen zu befähigen, sich selbst zu schützen und zu retten. Sie sollen sich auf Hilfe aus ihrem Umfeld verlassen.

Bild: privat
Im Interview: Maria-Victoria Trümper

ist Referentin bei der Interessensvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland. Sie hat Ostasien- und Lateinamerikawissenschaften studiert und beschäftigt sich beruflich schon lange mit Inklusion.

Die Warnsysteme sind nicht barrierefrei. Beispielsweise können gehörlose Menschen akustische Signale nicht wahrnehmen. Sehr oft wird auch sprachliche Barrierefreiheit wie der Gebrauch von leichter Sprache bei Katastrophenschutzwarnungen vergessen. Von verständlichen Warnungen profitieren aber alle Menschen.

taz: Bei der Flutkatastrophe im Ahrtal 2021 sind dreizehn behinderte Menschen gestorben, weil sie nicht rechtzeitig evakuiert wurden. War das ein Wendepunkt für inklusiven Katastrophenschutz in Deutschland?

Trümper: Das war ein Wendepunkt, den niemand wahrgenommen hat. Keiner spricht über die behinderten Klimatoten in Deutschland. Der inklusive Katastrophenschutz ist in Artikel 11 der UN-Behindertenrechtskonvention verankert. International wird darüber insbesondere in Ländern des Globalen Südens längst debattiert, weil diese bereits stärker von den Folgen des Klimawandels betroffen sind. Daher müssen sie sich auch schon länger mit inklusivem Katastrophenschutz beschäftigen und ihn umsetzen.

taz: Auf dem Global Disability Summit (GDS), also dem globalen Gipfel für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Anfang April in Berlin war inklusiver Katastrophenschutz ein Schwerpunktthema. Was kam dabei heraus?

Trümper: Selbstvertretungsorganisationen behinderter Menschen aus dem Globalen Süden hatten auf dem GDS mehr Selbstsicherheit im Umgang mit dem Thema als die aus dem Globalen Norden. In der Amman-Berlin-Deklaration, der Abschlusserklärung des GDS, hat der inklusive Katastrophenschutz auch eine zentrale Stellung. International haben wir den Klimawandel schon als die wahrscheinlich größte Bedrohung unserer Menschheit erkannt, er stellt auch die größte menschenrechtliche Herausforderung für die Zukunft dar.

Der internationale Austausch auf dem GDS mit Katastrophenschutzorganisationen und Selbstvertretungen war sehr wichtig, weil wir in Deutschland keine entsprechenden Vorbilder haben. Diese brauchen wir dann aus anderen Ländern.

taz: Sie treiben bei der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben inklusiven Katastrophenschutz voran. Wie denn?

Trümper: Dazu wollen wir uns zunächst in Gespräche mit Katastrophenschutzorganisationen einbringen, dass Inklusion auch diese betrifft. Unter maßgeblicher Beteiligung von behinderten Menschen und Selbstvertretungen wollen wir einen Maßnahmenplan erstellen. Inklusion in der humanitären Hilfe und im Katastrophenschutz ist kein „nice to have“, sondern ein Qualitätsmerkmal und Menschenrecht.

taz: Was würden Sie sich von der Politik wünschen?

Trümper: Die deutsche Politik muss sechzehn Jahre nach der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention einsehen, dass Inklusion immer ein Querschnittsthema ist und daher auch im Katastrophenschutz mitgedacht werden muss. Dazu gehört auch die direkte Beteiligung von behinderten Menschen und ihren Selbstvertretungsorganisationen im Aushandeln des Katastrophenschutzes.

taz: Was ist von der wahrscheinlich bald regierenden Koalition aus Union und SPD zu erwarten?

Trümper: Im neuen Koalitionsvertrag steht zwar nichts über inklusivem Katastrophenschutz, aber das Bundesamt für Bevölkerungs- und Katastrophenschutz soll ausgebaut und stärker gefördert werden. Das begrüße ich sehr, weil ich mit dem Amt schon zusammengearbeitet habe und das nun noch besser kann. Es ist offen für das Thema Inklusion und für Veränderungen.

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2 Kommentare

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  • Ein ganzes Ministerium für Beeinträchtigte wäre wirklich nötig, aber der Zeitgeist...

  • Bereits seit den Nuller Jahren spricht man nicht mehr von "behinderten Menschen", sondern von "Menschen mit Behinderung". Der Mensch steht im Vordergrund, die Behinderung ist auch in der Formulierung nachgeordnet. Dass das in deinem Artikel der taz sowohl der Redakteurin als auch der Interviewten nicht bewusst ist, irritiert sehr.



    Dennoch danke für den Artikel, Belange der Menschen mit Behinderung kommen sehr, sehr oft in der Berichterstattung zu kurz.



    Besonders eklatantes Beispiel: Covid-Pandemie.