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Indiemusiker Alex StolzeDer Kibbuz von Brandenburg

Mit der Indieband Bodi Bill wurde Alex Stolze bekannt. Auf seinem Soloalbum „Kinship Stories“ untersucht der Violinist seine jüdischen Wurzeln.

Reisen bildet: Alex Stolze in der Negev-Wüste Foto: Andrea Huyoff

Auferstanden aus Ruinen“: Tatsächlich, Alex Stolze, Jahrgang 1976, zitiert die Nationalhymne der DDR, während oder gerade weil das Musikzimmer um ihn stabil wirkt. Aufgewachsen ist der Sänger, Komponist und Violinist Stolze im Ostberliner Stadtteil Köpenick. Wir sprechen uns auf dem Land, im Brandenburgischen, wohin Stolze vor einigen Jahren gezogen ist.

Stolze sitzt inmitten von Mikrofon­ständern und einer Akustikgitarre. Die hintere Wand nimmt ein Klavier ein, davor ruht im Schatten eines aufgeschlagenen Notenhefts eine Basstrommel. Die Gardine ist so gezogen, dass noch Licht in den Raum kann. Vor Kurzem hat Stolze sein neues Album, „Kinship Stories“ als CD und Download veröffentlicht, mit der Vinylversion wird für März gerechnet. Die Coronapandemie sorgt auch für Verspätungen in den Presswerken.

Das Album „Kinship Stories“ umfasst elf Stücke, sieben Songs und vier Instrumentaltracks. Zum Vergleich: Stolzes 2018 erschienenes Vorgänger- und Debütalbum „Outermost Edge“ bestand aus zehn Stücken, von denen gleich sechs auf Gesang verzichten mussten. Das düstere „Outermost Edge“ und das Pop-orientierte „Kinship Stories“ verhalten sich zueinander wie eine bewusst karge Studie zu einem aus vollem Herzen barocken Entwurf. Wenn Stolze über das Werk sagt, es sei „das Resultat eines Arbeitens ans Licht“, dann ist das keine Esoterik.

Fokussierung beim Experiment

Das gilt generell für die Art, wie er Musik macht. Stolze experimentiert, aber er verliert sich nicht dabei. Er bedient sich moderner Elektronik, legt aber Wert auf klangliche Haptik. Dabei kommen seine „Kinship Stories“ wesenhaft beiläufig daher, ihre Hintertüren und Seitenstraßen bleiben beim ersten Hören fast unbemerkt. „German Desert“ heißt der Auftaktsong, ein knapp zweiminütiges kammermusikalisches Instrumental, dessen Streicherarrangement, dezent gesetzte Schachtelbeats und elektronische Gimmicks das Klangbild von Stolzes zweitem Soloalbum schon mal anreißen. In „Orphan“, dem folgenden Stück, zupft der 44-Jährige seine Geige, was einen fast schon perkussiven Effekt hat. Das Instrument ist übrigens eine fünfsaitige Spezialanfertigung.

Das Album

Alex Stolze: „Kinship Stories“ (Nonostar Records/Zebralution/Bandcamp)

Wenn er über seine musikalischen Einflüsse spricht, holt Stolze aus und verweist auf den Sound der späten Neunziger, der Jahrtausendwende und der nuller Jahre. Das Reisen war und ist dem noch in der zugesperrten DDR Aufgewachsenen sehr wichtig. Stolze fuhr oft nach Großbritannien und wird das auch wieder tun, er nennt drei Städte und deren Musikszenen als für sich prägende: zuvorderst Bristol mit Künst­le­r:In­nen wie Tricky und Portishead und ihrem somnambulen Trip­Hop, den Stolze um 1998 entdeckt hat.

Im selben Jahr ist auch das Soloalbum von Mark Hollis erschienen, Sänger der Londoner Band Talk Talk. Hollis’ eigenwillige Interpretation von Post-Rock und das Spätwerk seines Trios waren Alex Stolze eine wichtige Anregung. Radiohead aus Oxford hat er dann ab 2000 als Brückenschlag zwischen Indiepop und Elektronik aufgesogen. Dass Stolze mittlerweile selbst schon mal auf der Bühne des Clubs stand, in dem Thom Yorkes Band angefangen hat, darauf ist er schon stolz.

Die Mixtur aus Experiment und Songwriting, von der Stolze gerne spricht, ist auch in der 2005 von ihm mitbegründeten Berliner Band Bodi Bill zu hören, die seit 2019 nach einer längeren Pause wieder aktiv ist. Damit aber nicht genug. In letzter Zeit hat Alex Stolze zwei Werke für sich wiederentdeckt: die „Grea­test Hits“ von Leonard Cohen und eine Compilation mit Songs von Georges Moustaki, beide in den frühen achtziger Jahren als Lizenzpressungen auf dem DDR-Staatslabel Amiga erschienen.

Den Chansonnier Moustaki charakterisiert Stolze sichtlich begeistert mit einem Wort, das allein schon nach Mittelmeer klingt, er nennt ihn einen „Troubadour“. Dass der Franzose Moustaki ein Kosmopolit im Wortsinne war, in ­Alexandria in eine jüdischgriechische Buchhändlerfamilie geboren wurde, die italienisch sprach, fügt Stolze mit ­einem gewissen Nachdruck hinzu.

Geerbt hat er die beiden Scheiben von seinen jüdisch-katholischen Eltern. Über sie lassen sich noch einmal zwei spezifisch ostdeutsche Lebensgeschichten erzählen. Beide waren Diplomchemiker, der Vater in der Forellenfutterforschung, die Mutter im Strahlenschutz. Sie waren eng mit dem US-Amerikaner Tom Rapoport befreundet, Harvard-Biochemiker und Sohn des Wissenschaftler- und Ärzteehepaares Mitja Rapoport und Ingeborg Rapoport.

Linksabweichung vom Mainstream

Dass die jüdischen Rapoports vor den Nazis in die USA geflohen waren, aus denen sie während der McCarthy-Ära Anfang der fünfziger Jahre ausgewiesen wurden, und als An­ti­fa­schis­t:In­nen in den Osten Deutschlands gingen, ist Alex Stolze wichtig. Er betont aber auch, dass Vater Stolze für die DDR „zu sehr Kommunist“ gewesen sei und letzten Endes aus der Partei geworfen wurde. Er hatte wiederholt auf Missstände in seinem Betrieb hingewiesen, die Anerkennung von Patenten, die internationale Abnehmer finden sollten, blieb ihm versagt. „Es war uns nicht genug Sozialismus“, zitiert der Sohn Stolze einen Abkömmling des DDR-Adels, Florian Havemann, aus Annekatrin Hendels Dokumentarfilm „Familie Brasch“ über das Haus, aus dem der Schriftsteller Thomas Brasch kam, den die Musikerin Masha Qrella jetzt vertont hat.

1988 ist Stolzes Vater gestorben. Im Jahr darauf fiel die Mauer, gerade ein Jahr später kam die Wiedervereinigung über den damals 13-Jährigen. Vor der ersten und zugleich letzten und freien Volkskammerwahl 1990 hatte er, ohne selber schon wählen zu können, Materialien für Bündnis 90, die Liste der Bürgerbewegungen, verteilt: „Ich dachte, jetzt gewinnen wir. Stattdessen haben die Menschen Helmut Kohl gewählt“, erinnert er sich.

Kirche von unten

Die Währungsunion verbrachten Stolze und seine Freunde an der Ostsee, wo sie, irgendwie passt es, einer Lappalie wegen aus einem Supermarkt geschmissen wurden. Kein Eigentumsdelikt, sie hatten es gewagt, das Konsumparadies ohne Einkaufswagen zu betreten. Ein Freund Stolzes wurde festgehalten. Unterstützung fanden sie bei ihren Be­treue­r:In­nen aus der Kirche von Unten. Bei der noch in der späten DDR gegründeten, von Kennern KvU abgekürzten Gemeinde eigener Art handelte es sich um eine Kirche für Punks und Anarchist:Innen, Antifas und Hausbesetzer:Innen.

Kein schlechter Umgang für den jungen Stolze, der sich in die neue Zeit erst mal nicht vergucken konnte: „BRD war für mich ein Schimpfwort“, sagt er. An anderer Stelle spricht er von einem „großen, leeren Raum“, in den er sich gestellt sah. Zur ideellen Heimat und dabei zum Ort eines ungebundenen Lebens on the road wurde Stolze Irland, mit einer Irish-Folk-Band trat er in der Aula des Carl-von-Ossietzky-Gymnasiums in Berlin-Pankow auf. Zum Wendepunkt aber sollte ein Aufenthalt in Israel kurz vor der Ermordung Jitzhak Rabins 1995 werden.

Eines Nachts kamen Stolze und ein französischer Freund auf die sehr jugendliche Idee, mit zwei Flaschen Wasser und einigen Orangen einen Trip durch die Negev-Wüste zu unternehmen. Es war bereits November, und es ist noch einmal gutgegangen. Wahrscheinlich durch die Dehydration bedingt, hatte Stolze ein Gefühl, das er als quasi mystisches Erlebnis beschreibt, ein Einssein, einen unbenennbaren Zusammenhang.

Ganz real war der Supermarkt, vor dem die beiden Freunde sich anderntags als Straßenmusiker verdingten, ganz real die Künstlercommunity, die sich ihrer erst mal annahm. In die Wüste gehen und Gesellschaft erfahren, vielleicht umreißt es das, worum es Alex Stolze geht. Nach Israel und in die Negev mit ihren imposanten Kratern ist er immer wieder gefahren, zuletzt im Dezember 2019. Die Wüste ist Titel und Thema vieler seiner Songs, auf „Kinship Stories“ gleich dreimal.

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Refugium auf dem Land

Das Album hat er im vorigen Sommer in Brandenburg beendet, in seinem Kultur-Kibbuz, wie er das Anwesen nahe der polnischen Grenze nennt, das er mit Familie und Freunden in den letzten zehn Jahren ausgebaut hat. Dort betreibt er das unabhängige Label ­Nonostar Records, auf dem er auch Musik befreundeter Künst­le­r:In­nen wie die der Cellistin Anne Müller, des Multiinstrumentalisten Ben Osborn und des Elektronikproduzenten Qrauer verlegt.

Alle drei sind auch auf „Kinship Stories“ zu hören. Dann ist da das Solo Collective, das Stolze mit Anne Müller und dem Komponisten Sebastian Reynolds betreibt, ein Experimental-Trio, das in seinem Namen schon die Utopie trägt. So gesehen, ist Alex Stolze in Ruinen aufgestanden. Aus der Musik und den Reisen, aus der Tradition und der Verankerung in der jüdischen Community ist es Stolze gelungen, eine „Identität nahe an den Wurzeln“ zu entwickeln, wie er sagt. Bücher dürfen da nicht fehlen. Stolze liest die Erinnerungen jüdischer DDR-Heimkehrer.

Er hat einiges vor, er spricht von deutsch-polnischer Theaterarbeit und Künstlerresidenzen. Eine Landkarte verlassener Räume soll entstehen. Und wenn er die Nationalhymne seines Refugiums nicht selber komponieren will, könnte Alex Stolze bei Leonard Cohen nachschlagen. Der hat, was das Licht angeht, es bedachtsam auf den Punkt gebracht: „There’s a crack in everything / That’s how the light gets in.“

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