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In zwei Tagen von Wuppertal nach BerlinDeutschland mit dem Rad erfahren

An einem Wochenende passiert unser Autor die westfälische Riviera, den Brocken und ein Jagdrevier Honeckers. Dabei lernt er viel über sein Heimatland.

Brücken über und Radwege neben Flüssen: Es gibt viel zu sehen unterwegs Foto: David Fleschen

Weiter, immer nur weiter. Die schönste Form des Fahrradfahrens ist für mich das Überwinden großer Distanzen. Irgendwo ganz anders anzukommen als dort, wo man gestartet ist, nur dank eigener Muskelkraft. Solche Touren sind für mich mehr als nur eine sportliche Herausforderung. Sie sind eine Erfahrung, bei der Körper, Landschaft und Kultur zu einer Einheit verschmelzen. Danach ist man erschöpft, doch die Erlebnisse wirken noch Wochen nach.

Am Wochenende der Sommersonnenwende bin ich erneut aufgebrochen, und diese Reise liegt mir besonders am Herzen: von meiner Heimatstadt Wuppertal bis zum Brandenburger Tor mit einem Abstecher auf den Brocken. An einem einzigen Wochenende.

Selbst für mich als geübten Freizeitsportler ist das eine Reise, die ans Limit geht. 18 Stunden im Sattel – das ist keine Kleinigkeit. Es ist eine Lektion in Demut, Ausdauer und Resilienz, die zudem akribische Planung erfordert. Schon Tage vorher schaue ich auf die Wetter-App – Wind, Sonne, alles muss optimal sein, wenn ich es bis kurz vor Sonnenuntergang auf den Brocken schaffen will. Wenn man in meiner Fitnessklasse unterwegs ist, braucht man dafür einen der längsten Tage des Jahres und muss um 3 Uhr morgens losfahren.

Aber genau das macht es aus: der Start ins Dunkle hinein, sanft gleitend über die Wuppertaler Nordbahntrasse, diesen Vorzeigeradweg, der durch Tunnel und über Viadukte hoch über der Stadt führt. Um diese Uhrzeit fliegt einem schon mal eine Fledermaus mitten ins Gesicht. Dann hinauf zum Kreuz Wuppertal-Nord und abwärts zur Ruhr der Morgendämmerung entgegen.

Vergessene Hansestädte im Brüder-Grimm-Land

Man spürt den Tag von Anfang an. Die Deutsche Alleenstraße, dann das Ruhrtal, das langsam ins Sauerland übergeht – und schließlich der Möhnesee, der um diese Uhrzeit, 7 Uhr morgens, fast wie eine Art westfälische Riviera wirkt. Tiefblau funkelt das Wasser und alles ist noch so ruhig, dass man die leichten Schaumkronen auf dem See zu hören scheint.

Dann Rüthen, früher eine bedeutende Hansestadt, wie ein Schild verrät, heute ein idyllischer Flecken mit Stadttor. Warburg, ebenfalls eine alte Hansestadt, immer noch beeindruckend. Trendelburg, überragt von einem Turm, an dem ein Zopf herunterbaumelt: der Rapunzelturm. Brüder-Grimm-Land. Wer mit dem Rad durch Deutschland fährt, merkt schnell: Zwischen NRW und Berlin liegt mehr als Bielefeld, Hannover und Wolfsburg.

Mittagspause am alten Wasserschloss Wüllmersen. Frische Forelle und Brot aus der Region, zum Nachtisch selbst gemachtes Eis. Nebenan zelten Jugendgruppen, im Nachbartrakt finden Yogakurse statt. Am Rand grasen Strauße. So idyllisch ist also Nordhessen. Und der Reinhardswald, bundesweit in den Schlagzeilen wegen eines geplanten Windparks, ist tatsächlich eine wunderschöne Natur­oase.

Wenn da nicht immer der Blick auf die Uhr wäre: Pausen kann ich mir kaum erlauben. Weiter, immer nur weiter. Ein letzter Anstieg, dann rolle ich hinab zur Weser. Die größeren Flüsse strukturieren meine Reise, drei von ihnen werde ich auf dem Wasser queren: Weser, Saale und Elbe. Die Fährnutzung erfordert logistisches Geschick, ich muss die Fahrpläne stets im Blick haben. An der Weser ist zum Beispiel der direkte Weg mit der Märchenfähre gesperrt, denn der Fährmann ist seit einem Jahr im Ruhestand. Also geht es ein paar Kilometer weiter übers Wasser, nach Wahmbeck.

Über 200 Kilometer habe ich nun geschafft, doch noch immer sind es über 100 bis zum Brocken. Der folgende Abschnitt ist ein bisschen wie eine schwierige Phase im Leben. Ich fahre auf einer vielbefahrenen Straße, spüre oft Gegenwind und leichte Anstiege – nichts, was einen wirklich antreibt. Mentale Stärke ist gefragt.

Doch dann taucht irgendwann die Burg Adelebsen auf, ein erstes Zeichen, dass es trotz aller Strapazen weitergeht. Bald sehe ich die Burg Plesse am Horizont, und nach einem weiteren steilen Anstieg liegt plötzlich märchenhaft der Harz vor mir. Jetzt weiß ich, dass ich ankommen werde.

Am gefühlten Mittelpunkt Deutschlands

Bad Lauterberg, Braunlage, Elend, Schierke, Brocken: Wenn man es wirklich bis ganz nach oben geschafft hat – bei vier Versuchen ist mir das erst einmal gelungen – dann fühlt sich das unwirklich an, gerade zur Sommersonnenwende. Der Blick ist irre weit, links Niedersachsen, rechts Sachsen-Anhalt und ein paar Kilometer weiter im Süden: Thüringen. Ganz so, als hätte ich in diesem Augenblick den Mittelpunkt Deutschlands entdeckt.

Ich passiere Burgen, Wälder, Hunderte mittelständische Betriebe, viele wirken hochmodern. Landmarken wie die Diskothek „For You“, ein seit 1968 quasi unveränderter Club. Ich spüre, wie sich die Orte langsam wandeln: der aufgeräumte Stil des Sauerlands, die Fachwerkhäuser des Weserberglands, jedes mit einem biblischen Spruch, die nüchterne Architektur des katholischen Eichsfelds, die kantigen Dörfer Sachsen-Anhalts und am Ende das etwas lieblichere Brandenburg.

Überhaupt spüre ich am nächsten Tag, nach einer Übernachtung in Schierke, dass ich eine einstige Grenze passiert habe. Die Städte strahlen mehr historische Substanz aus, aber ich sehe auch viel Leerstand und viel weniger Wirtschaftsleben als im Westen. Dafür ehemalige LPGs, die heute versuchen, profitable Agrarbetriebe zu sein, und Kleingartenanlagen, deren verblichene Schriftzüge Namen wie „Neue Zeit“ oder „Gute Hoffnung“ tragen.

wochentaz

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Zwischenstopp in Seeland. Schöner Name – große Pläne. Nach dem Ende des Kohletagebaus in der Region sollte rund um den Concordiasee eine schöne neue Siedlung entstehen, mit Uferpromenade, Strandcafé und kleinem Jachthafen. Alles gebaut in den 1990er Jahren, mit dieser typisch postmodernen Blühende-Landschaften-Architektur, die mich ein wenig an die Expo 2000 erinnert.

Doch 2009 stürzte ein Teil der Böschung ein, drei Menschen starben. Der See war lange gesperrt. So steht man hier, schaut über das glitzernde Wasser zum Harz und weiß nicht, welches Gefühl überwiegt: leichte Trostlosigkeit oder die Vorstellung, was hier vielleicht eines Tages doch noch entstehen kann – ein voller Strand und Segelboote bis zum Horizont.

Kurz darauf Brumby. Die Kirche ist von Weitem ausgeschildert und dient als Autobahnkirche. Umso größer die Freude, wenn man die Pforte des kleinen Parks öffnet und plötzlich große Ruhe spürt. Ein jahrhundertealter Park, darin eine Barockkirche – völlig unerwartet in ihrer Pracht, wunderbar kühl an einem Sommertag. „Wir beten für den Frieden“, steht dort auf Deutsch und Ukrainisch. Erst jetzt entdecke ich den Pfarrer, der in einem Liegestuhl sitzt. „Wohin fahren Sie?“ – „Berlin.“ – „Das ist noch sehr weit, ich würde Ihnen bei dem Wetter empfehlen, eher nachts zu fahren“, sagt er lakonisch. Im Garten sind Stuhlreihen aufgebaut. Eine Mitarbeiterin gehe in Rente, sagt er. „Zapfen Sie sich gerne ein Glas Bier, wenn Sie mögen“, sagt der Pfarrer zum Abschied. Ich bleibe beim Wasser.

Eine Landschaft, die bis Russland reicht

Weiter geht es über die Elbe, wie schon bei Weser und Saale auf einer Gierseilfähre, die sich lautlos über den Strom schiebt. Vielleicht etwas zu lautlos für die Fährmänner, denn heute läuft laut Radio. Auf der Saale hörte ich Sido, auf der Elbe gratuliert Radio Brocken Prinz William zum 43. Geburtstag. Am anderen Ufer verliert die Landschaft ihre Kleinteiligkeit. Die Felder werden größer, die Abstände zwischen den Dörfern auch, die Kiefernwälder werden mehr, eine Landschaft, die von hier bis nach Russland reicht. Es gibt wohl wenige Orte, wo man so sehr spürt, wie Deutschland Ost- und Westeuropa verbindet, wie an dieser Stelle.

Ich passiere Zerbst, wo das Denkmal Katharinas der Großen – Geborene von Anhalt-Zerbst – streng nach Osten blickt. Ein russischer Spender hat das jugendliche Bildnis der Zarin einst finanziert, sie ist auf Hochglanz poliert. Irgendjemand scheint die Skulptur regelmäßig zu pflegen. Der Hohe Fläming wird durchquert, Brandenburgs höchste Hügel – einst Jagdrevier von Erich Honecker, heute eine liebliche Landschaft, perfekt zum Rennradfahren auf breiten, kaum befahrenen Alleen. Gut, dass die Strecke immer schattiger wird.

Von hier bis Berlin: fast nur Fahrradstraßen. Und dann irgendwann geht es nur noch geradeaus. Nirgendwo auf der Welt gibt es eine so lange innerstädtische Achse wie zwischen dem Scholzplatz am Olympiastadion und dem Berliner Schloss. Exakt zwölf Kilometer schnurgerade. Vermutlich eine Sache der Preußen, die diese Straßen vor rund 200 Jahren anlegten. Später wurde die Achse von Albert Speer als Teil des Fiebertraums Welthauptstadt ausgebaut, seitdem hat sie sich ihrer Gesamtheit naturgemäß als Sehenswürdigkeit disqualifiziert.

Und so rolle ich über eine Straße, die mit der Größe der Champs Élysées mithalten kann, sich aber in ihrem Understatement für mich nicht viel lauter anfühlt als all die Dorfstraßen, die ich auf meiner Tour passiert habe. Bis ich dann plötzlich, einfach so, durchs Brandenburger Tor fahre. Durchs Ziel. Und während ich kurz darauf bei Gözleme Kräfte sammele, habe ich das Gefühl, Deutschland besser kennengelernt zu haben, als ich es in Museen, Reiseführern und Geschichtsbüchern je könnte.

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