Improvisationsmusik in Berlin: Im Impro-Tempel
Im Berliner Club Ausland pflegt man seit 22 Jahren experimentelle Musik, die auch ohne Melodien zurechtkommt. Und manchmal gönnt sie sich doch welche.
D ass Berlin ein internationales (manche würden sogar sagen: das) Zentrum für die Improvisationsmusik ist, hat sich auch hinter dieser unscheinbar wirkenden Metalltür hier in Prenzlauer Berg entschieden. Sie findet sich in einer Seitenstraße, bereits etwas abseits der Kneipen und Fressstände in dem beliebten Ausgehviertel. Ein paar enge Treppenstufen geht man hinunter ins Souterrain, passiert die Tür und einen klitzekleinen Vorraum, und schon steht man in dem Kellerraum, der mit seiner hohen Decke gar nicht nach Keller schmeckt. Hinten gibt es eine improvisierte Theke, mit 50 Leuten ist der Raum eigentlich bereits voll.
Wenn alle wollen, passen aber auch eine Menge mehr hinein.
So ist das auch an diesem Abend im Ausland – so heißt der kleine Kellerclub. Dort darf was gefeiert werden. Die Konzertreihe „Biegungen“, die es genauso lang gibt wie das Ausland selbst, hat Jubiläum. 22 Jahre bestehen die Biegungen nun, aber natürlich hat man nicht einen großen Festakt darum gebastelt, was auch einigermaßen komisch ausschauen würde bei einer Veranstaltungsreihe, bei der sich die MusikerInnen im Regelfall vor dem Auftritt nicht groß noch einmal umziehen. Hier findet sich eher kein schicker Bühnenfummel, es gibt keine Show. Keine Glitzerkugel, sondern gerade mal ein rotes und ein blaues Licht.
Den Weg zur Echtzeitmusik
findet man am besten mit der Website echtzeitmusik.de. Hier sind die Berliner Konzerte mit experimenteller und improvisierter Musik gelistet. Da ist immer eine Menge los. Selbst an einem Montag gibt es da drei, vier Hör-Möglichkeiten.
Aber 22 Jahre sind jetzt keine Kleinigkeit. In diese Zeitspanne passt immerhin gleich zweimal die komplette Lebensdauer der Beatles von „Love me do“ bis „Let it be“ rein, auch wenn die Biegungen mit den Beatles auf den schnellen Blick wenig gemein zu haben scheinen. Schließlich kennt man die Reihe vor allem als bedeutenden Spielplatz der Berliner Echtzeitmusik, die nun wirklich nicht als besonders melodienselig verschrieen ist.
Verzicht auf den expressiven Gestus
Im Ausland hatte diese sehr international aufgestellte Szene für improvisierte, experimentelle Musik eine frühe Heimat. In Abgrenzung zu einer älteren, im Free Jazz durchaus gleichfalls gern improvisierenden Musikergeneration wird bei der Echtzeitmusik meist auf den expressiven Gestus verzichtet. Ein sehr am Klang interessiertes Musizieren, wo sonst gar nicht mehr viel dazu passieren muss. „Berlin Reductionism“ hat man das genannt und melodisch mag man sich das vielleicht wie ein sacht gezischeltes Krk-Brrrrmm-Zoing vorstellen.
Aber in diesen langen 22 Biegungenjahren war eben nicht nur so ein melodisch möglicherweise unterkomplexes Krk-Zoing zu hören, sondern halt auch verkanteter Pop, Irgendwiejazz und überhaupt Musik, die nicht so einfach in irgendeine Schublade entsorgt werden kann.
An diesem Abend waren es zum Beispiel fahle Seufzer am Cello und elektronisches Geplucker. Das Duo Ludwig Wittbrodt mit einer zurückgenommenen Zuhörmusik, deren sacht moduliertem Brummen das altersmäßig übrigens sehr gemischte Publikum mit einer Aufmerksamkeit wie in einem Klassikkonzertsaal begegnete. Dort allerdings hätte das Klirren von umfallenden Bierflaschen doch arg gestört. Im Ausland konnte man das gut als eine musikalische Ergänzung hören.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Krautrock miterfunden
Bei der Gruppe DEL, zweiter Programmpunkt des Abends, fand sich dann echte Prominenz, einerseits mit dem US-amerikanischen, seit langem in Europa lebenden Schlagzeuger Bill Elgart, (Jahrgang 1942, damit in etwa 8-mal die Beatles), und als Gast in dessen Trio war mit Jochen Irmler an der Orgel – schwarz-weiß gesprenkelter Bart, kleines Bäuchlein und weiter volles wirres Haar – einer dabei, der mit seiner Band Faust Anfang der Siebziger immerhin den Krautrock miterfunden hat. Schon eine Legende. Was sich bei so einer Minderheitenmusik, wie sie im Ausland betrieben wird, eben in diesen voll bepackten Raum umrechnet, der mit 50 Menschen bereits voll wäre.
Zu hören waren scharrende, kreiselnde Töne. Quengelnde Störgeräusche kamen untergehakt mit – doch – milden Melodien zu einem stimmungsvollen, intensitätsgesättigten Augenblickjazz zusammen.
Wieder mal: ein musikalisch ertragreicher Abend im Ausland. Draußen die Straße runter an den Fressständen und Kneipen amüsierte sich Berlin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles