Impfungen in Flüchtlingsheimen: Prioritätsgruppe Machen wir später
Berlins Impfstart in Flüchtlingsheimen kommt zu spät: Flüchtlinge und Mitarbeitende wurden um eine Prioritätsstufe degradiert, kritisieren die Grünen.
Denn gleichzeitig warten viele BewohnerInnen und MitarbeiterInnen in engen Wohnheimen noch immer auf den Piks. Menschen in Gemeinschaftsunterkünften sind besonders von Ansteckung gefährdet, weil sie Zimmer, Sanitärräume und Küchen mit vielen anderen Menschen teilen. Jeder Zwölfte in Berliner Gemeinschaftsunterkünften hatte bereits Corona, vier BewohnerInnen und eine unbekannte Zahl von MitarbeiterInnen sind daran gestorben.
In Berlin leben 18.000 Flüchtlinge in Wohnheimen des Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF), hinzu kommen noch 33.000 Menschen in Heimen der Bezirke. Faktisch wurden sie nun zur Priorisierungsgruppe 3 degradiert, wie etwa die Grüne Susanna Kahlefeld kritisiert.
Denn erst vergangenen Freitag, also fast zeitgleich mit Prioritätsgruppe 3, startete die Impfaktion in den ersten drei Wohnheimen mit dem Impfstoff Johnson & Johnson. Dieser Impfstoff hat den Vorteil, dass er nur einmal verimpft werden muss. Allerdings bietet er im Gegenzug dazu von allen zugelassenen Impfstoffen den geringsten Schutz. Diese Woche sollen in weiteren Unterkünften BewohnerInnen ab 18 Jahren geimpft werden.
Geringe Impfbereitschaft
Alexander Straßmeir, Präsident des LAF, feiert die beginnenden Impfungen in den Unterkünften: Mit dem erst kürzlich zugelassenen Impfstoff von Johnson & Johnson können „wir in kurzer Zeit viele Menschen vor einer Erkrankung und schweren Verläufen schützen. Durch den Einsatz von mobilen Teams stellen wir sicher, dass jeder, der möchte, ganz unkompliziert seine Impfung erhält.“
Das LAF räumt allerdings ein, dass die Impfbereitschaft unter den BewohnerInnen gering ist: Sie liege nur zwischen 10 und 60 Prozent. Die große Spanne erklärt sich wohl dadurch, dass die Impfbereitschaft höher ist, wenn es schwere Coronafälle in den Heimen gab. Zudem ist laut LAF „zu berücksichtigen, dass sehr viele der zahlreichen bereits an Covid erkrankten Menschen nicht geimpft werden können, weil sechs Monate zwischen Erkrankung und Impfung liegen müssen.“
Der Flüchtlingsrat, Grüne und MitarbeiterInnen von Flüchtlingsunterkünften kritisieren die gerade angelaufene Impfkampagne hingegen: Diese hätte viel zu spät begonnen. Laut Georg Classen vom Flüchtlingsrat hat das LAF vorab die Impfbereitschaft abgefragt. Aus einem der drei bereits geimpften Wohnheime heiße es, dass das LAF nur so viel Impfstoff mitgebracht hätte, wie Impfwillige gemeldet wurden. „Dabei war absehbar, dass vor Ort doch noch mehr Menschen bereit gewesen wären, sich impfen zu lassen“, sagt Classen.
Als einen Grund für die geringe Impfbereitschaft nennt Classen die schlechte Informationspolitik in den Sprachen der Flüchtlinge. Zwar hat das LAF mit einem Amtsarzt Videos in 15 Sprachen erstellt, doch Classen zufolge seien darin enthaltene Aussagen problematisch. Etwa die, dass alle Impfstoffe gleich gut seien und dass es keine Impfkomplikationen gegeben habe. „Das ist dann wenig glaubwürdig.“ Auch die Impfungen im Fastenmonat Ramadan könnten bei manchen die Bereitschaft gemindert haben. Der Flüchtlingsrat fordert darum eine weitere Impfaktion mit mobilen Teams. „Wenn die Geflüchteten sehen, dass MitbewohnerInnen und MitarbeiterInnen die Impfung gut vertragen haben, wird die Bereitschaft sicher deutlich steigen.“
„LAF hat uns vergessen“
Eine Sozialarbeiterin einer Flüchtlingsunterkunft, die anonym bleiben will, kritisiert, dass sie und ihre KollegInnen noch keinen Impfcode bekommen haben, obwohl sie zur Prioritätsgruppe 2 gehören. Sie sagt: „SozialarbeiterInnen in Behinderteneinrichtungen und Frauenhäusern haben vor Wochen ihre Impfcodes bekommen. Wir sind darauf angewiesen, einen Hausarzt zu haben, der impft und Impfstoff hat. Das LAF hat uns vergessen.“ Die Sozialarbeiterin sagt, dass Impfskepsis für Flüchtlinge untypisch sei. „Wenn gegen Masern oder Tetanus geimpft wird, liegt die Bereitschaft bei nahezu 100 Prozent.“ Aber der Corona-Impfstoff sei neu, im Internet kursierten zahlreiche Gerüchte.
Manfred Nowak von der Arbeiter Wohlfahrt Berlin-Mitte, die sieben Geflüchtetenunterkünfte betreibt, verweist auf die große Ansteckungsgefahr in den Häusern aufgrund der hohen Personendichte. Die Ankündigung der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die Impfpriorisierung aufzuheben, sieht er angesichts der wenigen Impfungen in Gemeinschaftsunterkünften kritisch. „Das unterstützen wir nur, wenn dadurch kein Nachteil für BewohnerInnen und MitarbeiterInnen von Gemeinschaftseinrichtungen entsteht. Es bedarf jetzt endlich mobiler Impfteams!“
Sascha Langenbach vom Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten weist die Kritik teilweise zurück. „Die Impfteams hatten an allen Standorten ausreichend Impfdosen dabei. Es gab an keinem der drei Standorte einen Mangel an Impfmaterial.“ Zusätzlich zu den Videos hätte seine Behörde Infomaterial an die Einrichtungen geschickt. Ein zweiter Einsatz von mobilen Impfteams in Flüchtlingsunterkünften sei nicht geplant. „Für alle Menschen, die den Termin verpasst haben, gibt es die Möglichkeit der Terminvergabe beim Hausarzt“, sagt Langenbach.
Starke Konkurrenz bei den Hausärzten
Zwei betroffene SozialarbeiterInnen erfahren davon durch einen Anruf der taz. Sie kritisieren das scharf: „Montag wurden die Impfungen für die Prioritätsgruppe 3 freigegeben. Der Andrang in den Impfzentren und Arztpraxen ist riesig.“ Die beiden Frauen haben deswegen erst im August einen Termin im Impfzentrum erhalten.
„Unsere Bewohner haben es aufgrund ihrer schlechten Deutschkenntnisse noch schwerer, sich einen Termin gegen die starke Konkurrenz zu sichern.“ Die Sozialarbeiterinnen haben zudem Bedenken, das Infomaterial unter den Flüchtlingen zu verteilen. „Wir sind selbst noch nicht geimpft worden. Darum sehe ich mich nicht in der Lage, ungeschützt von Zimmer zu Zimmer zu gehen.“
Die Grüne Susanna Kahlefeld kritisiert, dass BewohnerInnen und MitarbeiterInnen von Flüchtlingsheimen, die laut Bundesgesundheitsministerium eigentlich zur Priorisierungsgruppe 2 gehören sollen, so von Berlin klammheimlich in die Gruppe 3 heruntergestuft wurden. Kahlefeld sagt: „Gesundheitssenatorin Kalayci hat nicht rechtzeitig den Impfstoff bereitgestellt. Das ist unmöglich angesichts der Ansteckungsgefahr. Und wenn die MitarbeiterInnen und EhrenamtlerInnen nicht mitgeimpft werden, dann wird das Impfvorhaben in Flüchtlingsheimen nicht gelingen.“
Auch Kahlefeld fordert für die Heime einen zweiten Einsatz mobiler Impfteams. Sie sagt: „Frau Kalayci kann deren Arbeit nicht Ende Mai einstellen. Damit bleiben die Leute unversorgt, die Impfungen am nötigsten haben, aber sich gegen starke Konkurrenz nicht behaupten können.“
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