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Immer mehr Bücher für alle

Integration Die massenhaften Flucht- und Migrationsbewegungen nach Europa bestimmen nicht nur Politik und gesellschaftliche Debatte, sondern spiegeln sich heute selbst auf dem Kinderbuchmarkt wider

Angekommen in Deutschland bringen junge Geflüchtete nicht nur ihre eigenen Geschichten mit, sondern auch jede Menge Leselust. Die Verlage haben längst schon reagiert Foto: Britta Petersen/dpa

von Joachim Göres

„Bestimmt wird alles gut“ von Kirsten Boie, „Sinan, Felix und die wilden Wörter“ von Aygen-Sibel Celik, „Nusret und die Kuh“ von Anja Tuckermann – das sind nur drei von mehr als 60 Kinder- und Jugendbüchern, die zum Thema Flucht und Inte­gration in Deutschland neu erschienen sind. Die neue gesellschaftliche Realität ist im Buch für den Lesenachwuchs angekommen und dabei haben die Verlage auch die Flüchtlinge als Leser im Blick: Die Zahl mehrsprachiger Bücher für Kinder und Jugendliche hat in letzter Zeit deutlich zugenommen.

Diese Themen standen im Mittelpunkt eines Treffens von rund 130 Kinder- und Jugendbuchautoren aus ganz Deutschland kürzlich auf der Jahrestagung des Friedrich-Bödecker-Kreises in Hannover. Die Vereinigung bringt Schüler mit Schriftstellern zusammen: Rund 250.000 besuchen die jährlich rund 6.000 Lesungen.

Einer dieser Autoren ist Manfred Theisen. Er hat „Checkpoint Europa“ über die Flucht eines Jungen von Syrien nach Deutschland veröffentlicht. Auf der Tagung berichtete er über ein zweitägiges Projekt, das er mit jungen Flüchtlingen im Jugendzentrum Sonnenblume in Bremerhaven geleitet hat. Er hat ihnen Videos gezeigt mit Sequenzen wie Salz, das sich im Wasser auflöst. Die Mädchen und Jungen haben ihre Assoziationen aufgeschrieben. Häufig seien dabei Wörter wie „Tod“ und „Verlust“ gefallen. Theisen hat daraus ein Gedicht gemacht und die Kinder freuten sich, dass sie trotz ihrer begrenzten Deutschkenntnisse zum Ergebnis beitragen konnten: ein Video, bei dem sie die einzelnen Zeilen des Gedichts vorlesen.

„Die Verlage fragen verstärkt nach Flüchtlingsgeschichten in einfacher Sprache“, sagt Annette Weber. Sie schreibt ihre Jugendbücher über Themen wie Schulschwänzen, Gefahren beim Chatten oder Alkohol schon seit Jahren in drei unterschiedlichen Versionen – der Stoff wird von ihr in eine einfachere und eine kompliziertere Fassung mit mehr Informationen umgearbeitet. „Von der mittleren Stufe verkaufe ich die meisten Bücher, doch auch die anderen beiden Ausgaben sind gefragt“, sagt Weber.

„Es gibt bei großen Verlagen den Trend, das Sprachniveau immer weiter runterzufahren, um ein möglichst großes Lesepublikum zu erreichen“, sagt Wolfram Eicke. Er schreibt seit 30 Jahren sowohl Bilderbücher als auch Jugendromane und stellt seitdem immer wieder in Schulen seine Bücher vor. „Ich erzähle Geschichten und frage, wie sie wohl weitergehen könnten oder singe ein Lied und baue Vorschläge für die nächste Strophe dann in den Liedtext mit ein. Wenn Jugendliche merken, dass sie Einfluss nehmen können, sind sie stolz auf sich und unheimlich motiviert.“ Eicke freut sich, dass er eine Nische gefunden hat: Seit Kurzem schreibt er Ausstellungstexte für Planetarien, die sich gezielt an junge Besucher wenden.

„Die Verlage fragen verstärkt nach Flüchtlingsgeschichten in einfacher Sprache“

Annette Weber, Schriftstellerin

Manfred Schlüter schreibt Geschichten, reimt und zeichnet für Kinder. „Die Ausstattung eines Buches ist wichtig: guter Druck, ordentliches Papier, schöne Illustrationen. Daran wird bei Verlagen immer häufiger gespart. Ich bin extrem dankbar, dass ich in Österreich einen Verlag gefunden habe, der darauf Wert legt und Dinge wagt, die sich andere Verlage nicht trauen“, sagt Schlüter, der in Hillgroven an der schleswig-holsteinischen Westküste lebt. Er ist überzeugt, dass man mit Lyrik Kinder erreichen kann: „Kinder lieben Reime. Dabei ist das Vorlesen und Vortragen wichtig.“ Einige seiner Titel bietet Schlüter über seine Homepage als Books-on-Demand an. Bücher also, die nicht auf Vorrat in den Regalen der Verlage und Buchhandlungen herumliegen, sondern tatsächlich erst dann gedruckt werden, wenn sie jemand bestellt.

Er reagiert damit auf eine Tendenz, dass Verlage Bücher immer schneller aus ihrem Programm nehmen. Außerdem findet man nur einen Bruchteil der Neuerscheinungen – im letzten Jahr sind in Deutschland 9.081 neue Kinder- und Jugendbücher erschienen – in den Buchhandlungen. Laut Statistik des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels ist 2015 der Umsatz mit Bilder- und Kinderbüchern im Vergleich zum Vorjahr leicht gestiegen, während er beim Jugendbuch deutlich zurückgegangen ist. Bei den Jugendbüchern steht Jeff Kinney mit drei Folgen von „Gregs Tagebuch“ auf den ersten drei Plätzen, bei den Kinderbüchern verkaufte sich „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ von Andreas Steinhöfel am besten. Rund ein Viertel der in Deutschland erscheinenden Kinder- und Jugendbücher sind Übersetzungen, vor allem aus dem Englischen.

Gewinner des diesjährigen Bödecker-Preises sind Patrick Addai („Wörter sind schön, aber Hühner legen Eier“) und Carolin Philipps („Talitha“). Sie wurden für Bücher ausgezeichnet, die jungen Lesern fremde Kulturen näherbringen. Die in Hamburg lebende Philipps, die mit einem Vietnamesen verheiratet ist, erinnerte sich bei der Annahme des mit 1.000 Euro dotierten Preises an ihre Anfänge: „Ich habe Ende April 1989 mein erstes Manuskript mit dem Titel ‚Das Vierte Reich‘ beendet. Da feierten Neonazis den 100. Geburtstag des Führers und warnten ausländische Eltern in der Grundschulklasse meines Sohnes davor, ihr Kind an diesem Tag in die Schule zu schicken. Seitdem ist Toleranz immer Thema in meinen Büchern. Ich schreibe für eine Welt, in der die Hautfarbe keine Rolle spielt. Dieses Ziel ist noch lange nicht erreicht.“

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