Im Zug mit einer Stimme: Schreiben mit Karl Lagerfeld

Zum Ende des Jahres ließe sich viel sagen – wenn die Stimme im eigenen Kopf nur endlich mal still wäre. Ein Dialog.

Eine Frau sitzt im Zug, sie sieht versunken aus

In vollen Zügen kommen die Gedanken in Fahrt Foto: unsplash/Bogdan Cadar

Zweiter Weihnachtsfeiertag, Bahnfahrt nach Irgendwo. Der Zug ist voll, Kindergebrüll und Handygedudel wechseln sich ab. Das Internet funktioniert nicht. Die feiste Stimme, die sich immer kurz vor Kolumnenschluss ­meldet und sich anhört wie Karl La­gerfeld, wenn er Dickenwitze macht, hat ausreichend Zeit, im Kopf der Kolumnista rumzu­nölen.

Kolumnenstimme (KS): Dumdidum, wieder ein Jahr rum.

Ich: Bitte?

KS: Ich wollte es ja nur mal gesagt haben. Rate, wer heute Abend noch eine Kolumne abgeben muss? Überleg dir schon mal deinen Einstieg und das Ende, Püppi. Und in deiner Jahresendkolumne solltest du jetzt mal wirklich über das schreiben, worüber du schon seit Juli schreiben wolltest – aber da warste ja in Dresden und musstest unbedingt Ananasdöner testen. Als ob es nichts Wichtigeres gäbe! Seitdem hast du nicht einen Gedanken an dieses hochpolitische Thema verschwendet …

Ich: Ey, ist gut jetzt.

KS: (nachäffend) Ey, ist gut jetzt. Hast du heute überhaupt schon Nachrichten geguckt oder auch nur eine Seite einer überregionalen, deutschsprachigen Zeitung gelesen? Der Rote Faden ist, wenn ich mich recht erinnere, ein aktuelles Format, eine politische Analyse der Woche, Exzerpt des frisch Vergangenen, das du mit deinem dir eigenen Blick kommentierst. Wie willst du das hinkriegen, frage ich dich, wenn du noch nicht einmal die Deutschlandfunk-Nachrichten der letzten Stunde gehört hast?

Ich: Es gibt hier kein Internet, schon mitgekriegt?

KS: Zeitungen gibt es auch noch in Papierform, aber klar, bei der taz ist man ja Avantgarde und liest nur noch online.

Ich: Hör mal zu, du Gehirnzellen-Pumuckl. Ich lese keine drei Tage alten Zeitungen.

KS: Seufz.

Ich: Wetten, dass ich den Kolumnentext auch so schreiben kann? Allein hier, in diesem einen Zugwagen, gibt es so viele Ideen, Geschichten und menschliche Abgründe, dass das doch Stoff für drei, ach was, fünf Kolumnen bietet. Ich muss doch hier nur mal eine halbe Stunde in den Wagen hineinhorchen und bin so krass dran an den Schicksalen – und das auch noch an Weihnachten! Da hinten, das Paar, das nur noch über die Kinder kommuniziert und auch sonst sehr ­abwesend scheint – sind sie nicht ein fantastisches Abbild der Überforderung in der neoliberalen Gesellschaft?

KS: Ich dachte immer, das wärst du. (lacht)

Ich: Sehr witzig. Okay dann: Was hältst du davon, wenn ich einen Jahresrückblick schreibe? Was war gut, was war schlecht?

KS: Gähn.

Ich: Ich könnte natürlich auch meine Fragen des Jahres aufschreiben. Fragen, die so aufgeploppt sind in diesem Jahr und Antworten zum Ankreuzen hineinschreiben. Eine Mitmachkolumne sozusagen.

KS: Nee, das kann Hengameh besser. Und wenn die Kolumne erscheint, sind eh alle von Weihnachten überfordert.

Ich: (summend) „This year, to save me from tears“… Wusstest du eigentlich, dass der unscheinbare von Wham! nicht einen Cent an „Last Christmas“ verdient? Wie heißt der doch gleich?

KS: Andrew Ridgeley. Aber das kannst du ­wirklich nicht in die Kolumne schreiben.

Ich: Hm. Aber ich könnte etwas Post-Weihnachtliches schreiben: Etwa an Ramazan Avcı erinnern, der 1985 von rechten Skins mitten in Hamburg mit Baseballschlägern bewusstlos geschlagen wurde und drei Tage später, an Heiligabend, an den Folgen starb. Man könnte fragen, warum die Täter mit ein paar Jahren Jugendknast und der Begründung Totschlag, nicht Mord, davonkamen. Einfach, weil die Richter kein rechtes Gedankengut erkennen konnten. Und warum diese Kurzsichtigkeit, drei Jahrzehnte später, immer noch …

KS: Dieses Jahr haben nach dem Mord an Lübcke und dem Anschlag in Halle nun wirklich alle kapiert, dass Rechtsterrorismus ein Problem für die Demokratie in diesem Land darstellt.

Ich: Der war gut.

KS: Excuse-moi, aber du darfst wirklich, wirklich nicht vergessen, der oder dem edlen Spender*in zu danken, die dir im Mai eine Küchenwaage in die taz schickte. Weil du dir eine in deiner Kolumne wünschtest.

Ich: Werde ich nicht.

KS: Du kannst auch noch den taz-Meinungs-Redakteur*innen und Leser*innen der taz danken, und den Herstellern der Biozigaretten ohne die du keine Kolumne schaffst.

Ich: Ja, ja und ja. Und jetzt ist Ruhe im Karton, KS.

KS: (fies lachend) Ciao Kakao, bis Ende Januar.

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Jahrgang 1973, Chefin vom Dienst im Lokalteil der taz. Studierte Publizistik und Turkologie an der FU Berlin.

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