Im Protestcamp der Muslimbrüder: Mit Knüppeln und Latschen
Die Mursi-Anhänger demonstrieren für die Rückkehr des gestürzten Präsidenten. Selbstgebaute Waffen sollen nur zur Verteidigung dienen.
KAIRO taz | Sie erinnern an römische Legionäre aus Asterix & Obelix, die jungen Kämpfer. Vielleicht wegen der Schutzschilde, die einige Anhänger von Mohammed Mursi demonstrativ vorm Körper tragen. „Taaaaaaakbir“, schreit der Legionsführer. Das islamische Glaubensbekenntnis schallt ihm von den Männern entgegen. Dann stimmen sie, mehr oder weniger in Reih und Glied, Sprechchöre an: „Mursi, Präsident der Republik!“
Die Schilde, erklärt der Legionsführer, seien aus Metall, selbstgebaut. So groß wie ein Ofenblech. Dazu tragen die Männer Schlagstöcke verschiedener Bauart: mit Klebeband umwickelte Holzknüppel, einfache Stöcke, Eisenstangen, Baseballschläger. Einer hat sich mit einem abgeschraubten Tischbein bewaffnet.
Sind es Details wie die mit der Kampfausrüstung kombinierten Badelatschen, die die Großdemonstration der Mursi-Anhänger im Kairoer Stadtteil Nasr City am Sonntag trotzdem friedlich erscheinen lassen? Nichts weist darauf hin, dass es nur Stunden später zu einer grausamen Schlacht zwischen Mursi-Anhängern und dem Militär kommen wird. Feuerwaffen sind nirgends zu sehen.
Hinter dem Trainingsbereich der chaotisch anmutenden paramilitärischen Trüppchen beginnt die eigentliche Großdemonstration für den vom Militär nach Massenprotesten entmachteten Präsidenten Mursi. Auf der Straße vor der Rabaa-al-Adawia-Moschee sind Hunderte Zelte aufgebaut. Schon am Vormittag tummeln sich die Demonstranten in Massen auf der Protestmeile.
Männer auf Matratzen lesen Zeitung, zwei Mädchen fotografieren sich gegenseitig vor einem Mursi-Plakat, ein kleiner Junge tanzt mit wehender Nationalflagge auf einem Autodach. Am Straßenrand verkaufen Händler Orangensaft und Sandwichs. Andere haben einen Vorrat an Knüppeln herbeigeschafft. Wie Kaminscheite sind sie zum Verkauf ordentlich gestapelt.
Der Protest sollte friedlich bleiben
„Wir würden niemals Gewalt anwenden“, sagt Mohammed Hibischi. Die Knüppel und das Training seien nur zum Schutz vor möglichen Schlägertruppen der anderen Seite. Die andere Seite, das sind in diesem Fall die Mursi-Gegner, die sich täglich auf dem Tahrirplatz in Kairos Innenstadt versammeln und das Militär feiern, das sie seit dem Militärputsch felsenfest auf ihrer Seite glauben.
In eine weiße Gallabija, das ägyptische Kleid für Männer, gekleidet sitzt Hibischi mit einem Dutzend anderer Männer auf dem Zeltboden, die Beine im Schneidersitz übereinandergeschlagen, in der Hand einen Koran. „Einige Leute in Ägypten“, sagt der Fünfzigjährige, „wollen das alte System wiederhaben.“ Es sei doch ganz natürlich, dass das Volk rebelliere, wenn ein demokratisch gewählter Präsident durch einen Militärputsch entmachtet wird. „In Ägypten gibt es zwei Lager: ein großes für Mursi und die Demokratie, und ein kleines gegen ihn.“
Nicht nur die Muslimbruderschaft, Mursis politische Heimat, will den abgesetzten Präsidenten wieder im Amt sehen. Kurze Umfrage bei den Mursi-Anhängern im Zelt: „Wer ist hier alles Muslimbruder?“ Nur die Hälfte der Männer hebt die Hand.
Auch Hibischi selbst ist kein Bruder, und dennoch Politiker bei der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei, dem politischen Arm der Bruderschaft. Bei den Muslimbrüdern aber sei er nicht. Die seien ihm zu einseitig, sagt er. Die Partei dagegen sei offen für ein breites Spektrum an Meinungen.
An seinen Fingern zählt Hibischi auf, wie er Ägypten aus der Krise führen will: „Erstens brauchen wir einen nationalen Dialog, zweitens Wahlen der Nationalversammlung, drittens eine Koalitionsregierung und schließlich eine Roadmap für die Zukunft.“ Alles aber unter einer Bedingung: der Präsidentschaft Mohammed Mursis.
Die gleichen Poster wie am Tahrirplatz, ohne das rote Kreuz
Im Protestcamp vor der Rabaa-al-Adawia-Moschee gibt man sich fest davon überzeugt, dass Mursi bald wieder Präsident sein wird. „Vorher wird es keine Ruhe geben“, sagt ein Muslimbruder in Shorts, Flip-Flops und Sonnenbrille.
Am Straßenrand hat sich jemand eine Mursi-Pappmaske über das Gesicht gezogen und hält, vom Bürgersteig herab, eine Rede vor einer Handvoll Leuten. Poster an der vor der Moschee aufgebauten Bühne zeigen das Konterfei des ehemaligen Präsidenten, eine Gruppe junger Frauen mit Mursi-Postern vor der Brust singt Sprechchöre und zieht in Richtung Bühne. Es sind die gleichen Poster wie auf dem Tahrirplatz. Nur fehlt das rote Kreuz durch das Gesicht des ehemaligen Präsidenten. Und die Teufelshörner auf Mursis Kopf.
Ali Fargaly, der bei einer Kairoer Zementfirma arbeitet, ist überzeugt, dass Mursi in dem einen Jahr als Präsident sein Bestes gegeben hat. „Die Ausgangsbedingungen waren schwer“, sagt Fargaly, „nach der Revolution lag die Wirtschaft am Boden.“ Allerdings habe Mursi, das müsse man zugeben, auch Fehler gemacht, vor allem habe er die Hauptakteure der Revolution nicht einbezogen. Aber gewählt sei schließlich gewählt.
Es ist ein Argument, das immer wiederkehrt: Ein gewählter Präsident hat durch Wahlen entmachtet zu werden. Punkt. „Demokratie in Ägypten hat nur einmal eine Chance und die ist jetzt“, ruft ein Mann im Vorbeigehen, „wenn wir sie jetzt nicht verteidigen, dann wird es niemals Demokratie in Ägypten geben.“
Mursi und die Muslimbrüder, erklärt Ali Fargaly, das seien die Moderaten unter den Islamisten. Wenn das Militär sie nun wie unter Husni Mubarak und seinen Vorgängern wieder unterdrücke, dann würden sich viele enttäuscht den radikalen Gruppen zuwenden.
Am Nachmittag setzen sich die Massen – es müssen Zehntausende sein – in Bewegung zum Offiziersclub der Republikanischen Garde. Der beliebte Fernsehkanal CBC wird am Abend ausgiebig Bilder der Proteste des Tages zeigen: von den Mursi-Gegnern in Alexandria, von den Mursi-Gegnern in Kairo. Darunter die Erklärung: „das ägyptische Volk“. Neben einer Luftaufnahme des überfüllten Tahrirplatzes wird er ein Bild von einzelnen Pro-Mursi-Demonstranten zeigen. Darunter die Erklärung: „Anhänger Mursis“.
Flugzeuge schreiben ein Herz in den Himmel
Vor dem Sitz der Republikanischen Garde sammeln sich die Menschen. Dutzende schwer bewaffnete Soldaten hinter einer Stacheldrahtbarrikade schützen das Gebäude. Ein Salafist, der einen gelben Bauhelm mit einem aufgeklebten Mursi-Foto auf dem Kopf trägt, erklärt, hier habe es am Freitag Tote gegeben. Nicht von Islamisten von hinten erschossen, wie die Medien behauptet hätten, sondern von den Soldaten. Kopfschuss von vorne.
Im Ägypten dieser Tage hat jede Geschichte zwei Versionen. Mal geht es der Wirtschaft seit dem Amtsantritt Mursis besser, mal schlechter. Mal unterstützt Amerika die Demonstranten auf dem Tahrirplatz, mal die Islamisten in Nasr City. Mal wird jemandem von vorne in den Kopf geschossen, mal in den Hinterkopf. Die Fakten sind dehnbar, die Fronten verhärtet. Mit jedem Zwischenfall verfestigen sich die Vorbehalte gegenüber dem anderen Lager.
Als am Abendhimmel über dem Quartier der Republikanischen Garde eine Fliegerstaffel der Armee auftaucht, bricht ein Pfeifkonzert los. Dass die Flieger, deren Kondensstreifen in den ägyptischen Nationalfarben eingefärbt sind, ein gigantisches rot-weiß-schwarzes Herz in den Abendhimmel zeichnen, stimmt hier niemanden mehr um. „Sisi, hau ab!“, rufen die Menschen im Chor. Sie meinen Armeechef Abdel Fatah al-Sisi, der mit Postern und Sprechchören auf dem Tahrirplatz gefeiert wird. Für Mursi-Anhänger verkörpert er den politischen Feind.
In der Nacht stoßen Armee und Mursi-Anhänger vor der Republikanischen Garde aufeinander. Mindestens 50 Menschen sterben. Die Armee spricht von „bewaffneten Terroristen“, die im Morgengrauen versucht hätten, das Gebäude zu stürmen. Glaubt man der Muslimbruderschaft, dann haben Sicherheitskräfte die Demonstration gewaltsam aufgelöst. Wie so oft hat auch diese Geschichte ihre zwei Versionen.
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