Im Norden Tansanias: Die Leidenschaft des Jagens
Eine Reminiszenz an die Ethnopsychoanalyse der fünfziger Jahre und eine Reise zu den Hadzabe in Tansania.
Der Mond ist eine nach oben hin offene Sichel. Die Sterne sind hell wie eine Lichterkette. Die Nacht verschluckt die Menschen, die früh aus dem Busch auftauchen, eh man ihr Gesicht erkennen kann. Kinder eilen in ihren Schuluniformen über die Brücken hinweg. Sie laufen bis zu zehn Kilometer weit, hoffen, dass Schule und Ausbildung ihnen helfen kann wegzukommen. Aber der See ist ausgetrocknet wie die Wüste und das Leben ist hart und trist.
Die meisten Touristen fahren an der Stadt Karatu im Norden Tansanias vorbei, sie nehmen den Lake Eyasi nicht einmal wahr, vor ihnen liegt der berühmte Ngorongoro-Krater und danach kommt schon gleich die Serengeti. Die Europäer haben es eilig, sie wollen die Löwen sehen, die Nashörner erahnen, sie wollen die Angst spüren und den Ort erkunden, den der deutsche Zoologe Bernhard Grzimek berühmt gemacht hat: Serengeti darf nicht sterben.
Unser Weg führt uns über die Salzkrusten hinweg, jetzt wird die Sonne aufgehen und an einem Steinhügel halten wir an. Unser Führer ist 24 Jahre alt, er beherrscht die Sprache der Hadzabe, ihre Laute werden geschnalzt und gepfiffen und dazwischen gibt es Konsonanten. Die Hadzabe sind eines der letzten Völker, die noch frei leben, deren Ernährung auf der tägliche Jagd beruht und die keinerlei Vorratshaltung betreiben, weil ihre Götter für sie Sorge tragen.
Der kleine Jeep ist deplatziert, seine Kraft reicht kaum aus, dennoch hat Johannes, mein Sohn uns bis hierher gebracht. Cyprian, der Guide, eilt den Hügel aus Fels und Stein hinauf. Als er wiederkommt, ruft er: „Sie empfangen euch.“ Und so finden wir fünf Männer an einer Feuerstelle und einen kleinen Jungen. Sie haben einen Affen mit Pfeil und Bogen erlegt und zum Frühstück werfen sie ihn mit Haut und Haaren in das Feuer.
Ethnopsychoanalyse
In den Jahren von 1955 bis 1971 unternahm Paul Parin sechs Forschungsreisen nach Westafrika. Gemeinsam mit seiner Ehefrau Goldy Parin-Matthèy und Fritz Morgenthaler entwickelte er das Fachgebiet Ethnopsychoanalyse: Seit Mitte der 1960er-Jahre wurden die Forscherautoren mit dem gelungenen Versuch international bekannt, die Methoden der Psychoanalyse in der Ethnologie anzuwenden. Von 1972 bis 1979 war Paul Parin psychotherapeutischer Mitarbeiter an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Er zählt zu den prominenten Vertretern einer einer politisch engagierten Psychoanalyse. Bekanntesten Texte zu den Reisen: „Zu viele Teufel im Land oder Die Weißen denken zu viel“.
Die Dogon
Über diese afrikanische Volksgruppe die im Osten Malis lebt, schrieb Paul Parin. Das Volk umfasst derzeit etwa 350.000 Menschen.Die wichtigste Nahrungsquelle der Dogon ist der Hirseanbau. Die Dogon haben eine hochentwickelte handwerkliche Tradition
Die Hadzabe
Diese Volksgruppe in Tansania besuchte unser Autor. Sie sind traditionell Jäger und Sammler und eine der letzten Volksgruppen, die noch Steinwerkzeuge verwendet beziehungsweise in jüngster Vergangenheit verwendet hat. Mittlerweile wächst ihre Beeinflussung durch die Moderne.
Es riecht nach verbranntem Fell, in meiner Verlegenheit will ich mich nützlich machen und sammle kleine Holzstöcke auf. Die Männer lachen über mich und mit einem Knall platzt der Körper des Affen auf und Gedärm wird sichtbar. Die Männer reißen die Eingeweide heraus und schauen uns freundlich an.
Sie essen das Fleisch und ein Stück vom Herzen bekommt das Kind. Ihr Medizinmann ist unterwegs im Busch, eine Frau sei krank und er suche nach Kräutern, um sie zu heilen. Der Mann ist die wandelnde Bibliothek dieses Clans, er hat alles Wissen gesammelt, die Geheimnisse des Jagens und Heilens sortiert. Wenn er zurückkommt, findet ein Meeting statt, bei dem alle gleichrangig sind, auch die Frauen.
Zwei der Männer tragen auf dem Kopf ein Stück Affenfell, das ist das Zeichen dafür, dass sie gerade geheiratet haben. Auf ihrer Haut tragen sie Häute von Tieren, aber zwei haben eine Stoffhose an. Die haben Touristen ihnen geschenkt, sagt unser junger Führer. Später gehen die Männer mit dem Affenfell auf die Jagd. „Kommt mit“, sagen sie. Wir eilen mit ihnen durch den Busch, wir sind zu Jägern geworden.
Die Züricher Psychoanalytikerin Goldy Parin sagte kurz vor ihrem Tode zu ihrem Mann: „Du solltest einmal ein Buch über die Jagd schreiben, du bist der einzige Psychoanalytiker, der das kann.“ Paul Parin gehorchte und formulierte; wenn man über Jagd schreibt, muss man über geschlechtliche Lust schreiben und über Grausamkeit und Verbrechen. Als ich ihn in Zürich das letzte Mal besuchte (2008), war er der Überzeugung, eine Grausamkeit des Kapitalismus in der Schweiz bestünde darin, das Jagen in den Bergen nach lebendem Getier verbannt zu haben und anstelle dessen die Jagd auf das Geld zu intensivieren. Das aber könne nur billiger Ersatz sein für das Fieber, das Jäger ergreift und dem nur eine Waffe bedrohlich werden könne: die Vernunft.
Der Psychoanlytiker Paul Parin unterwegs
Die Hadzabe haben bei allem Eifer ein vernünftiges Verhältnis zur Jagd. Sie formulieren es so: „Wir machen uns keinen Stress darüber, was wir morgen essen. Die Jagd ernährt uns. Wir denken nicht viel darüber nach. Wir fühlen uns großartig und wohl.“ Dieses Gottvertrauen, dass der Calvinismus oder der Protestantismus uns ausgetrieben hat, findet seine Entsprechung im Horten und Akkumulieren von Waren, eine Vorsorge, die wiederum im kälteren Teil der Welt, die Voraussetzung dafür war, dass wir ohne die alltägliche Jagd überleben konnten.
Die Hadzabe sind dabei auszusterben. Ihr Lebensraum verengt sich, die Massai mit ihren großen Rinderherden nehmen ihnen die Möglichkeit der Jagd. Es gibt noch knapp 45 Clans und insgesamt 700 alte und junge Menschen. Sie bräuchten im Lärmen der Zeit eine Stimme, die gegenüber der tansanischen Regierung ins Gewicht fällt. Doch, wer könnte das sein?
Als in den 50er Jahren die Schweiz begann, eine neue ökonomische Identität zu entwickeln, die Waschmaschine in die Arbeiterhaushalte einzog, „Schöner leben – mehr haben“ zum Slogan der Alltagskultur wurde, brachen die Schweizer Psychoanalytiker Goldy und Paul Parin, Ruth und Fritz Morgenthaler auf, um im entfernten Mali die Eigenheiten des Volkes der Dogon zu erkunden.
Sicherlich spielte bei ihnen das Motiv eine Rolle, zumindest temporär dem Mief der 50er entfliehen zu können, aber eine dogmatische Abkehr von den Westgesellschaften sollte es nicht sein. Die vier Pioniere hatten in Europa schon zu viel erlebt, um Ade zu sagen, aber die Lust am anderen, die Erkundung des Fremden trieb sie auf den schwarzen Kontinent.
Das Glück der Dogon bestand darin, sich nicht mit materiellen Dingen zu belasten. Die Behutsamkeit mit der die Züricher Stadtmenschen sich auf die Dogon zu bewegten, traf auf die Empfindsamkeit von Menschen, die tagtäglich der Härte der Natur ausgesetzt waren. Daraus ist 1963 ein Buch entstanden, das den Titel trägt: „Die Weißen denken zu viel.“
Mut, Kraft und Ausdauer
Was uns in Europa aus dem Dunkel des Mittelalters befreite, die Vernunft, war den Dogon von Anbeginn nicht recht geheuer. Ihre Welt war vielmehr geprägt von Märchen und Mythen. Heute ist der Lebensraum der Dogon geschrumpft, in das Reich ihrer Freiheit ist die Brutalität des Denkens eingebrochen, nicht nur die Radikalisierung des Islam, auch die Kraft des autoritären Staates, hat die Sanftheit ihrer Stammesstrukturen bedroht. Dennoch hat die Nähe zum Fremden Wirkung erzielt.
Weniger ein Gefühl von Mitleid als der alte unstillbare Forschergeist der Europäer haben dazu geführt, dass das Buch der Parins erheblich dazu beigetragen hat, dass die Dogon überleben konnten. Die Hadzabe sind nicht weniger interessant, wenn es um die alte Frage der Notwendigkeit von Hierarchien geht. Sie haben bis heute keine.
Anführer oder Häuptlinge gibt es nicht. Reputation erreichen Hadzabe-Männer, wenn sie sich durch Mut, Kraft und Ausdauer als tüchtige Jäger hervortun. Die Jagd dient dem Gemeinwohl, dem Einzelnen bringt sie keine materiellen Vorteile – wohl aber sexuellen Nutzen. Top-Jäger gelten bei den Frauen als begehrenswerte Partner; sie zeugen mehr Kinder und ihr Nachwuchs hat bessere Überlebenschancen. Das bedeutet: Auch in einer egalitären Gesellschaft lohnen sich Anstrengung und Engagement, „Faulenzer“ gibt es bei den Hadzabe nicht.
Credo der Hazdabe
Alle Männer beteiligen sich an den oft gefährlichen Jagdzügen. Auf dem Markt der Partnerwahl könnten sie, wie der renommierte Soziobiologe Eckart Voland betont, sonst nicht bestehen. Die protestantische Ethik, der Fleiß der Schweizer Eidgenossen und die Tüchtigkeit der Hadzabe sind durchaus zueinanderzubringen, bedenkt man, dass die Bergvölker in der Mitte Europas keineswegs dem Jagen abhold geworden sind.
Jagd und Tierschutz
Der Präsident der JagdSchweiz, Hans-Peter Egli, hat ein Meinungsforschungsinstitut beauftragt, dass zu folgendem Ergebnis kommt: Mit steigender Tendenz kann festgestellt werden, dass 80 Prozent der Befragten bestätigen, dass sich die Jäger für die Umwelt und die Lebensräume von Tieren einsetzen. 76 Prozent der Bevölkerung ist überzeugt, dass es eine Regulation der Wildtierbestände in unserer Kulturlandschaft braucht. Weiter kann mit einer Zustimmungsrate von 80 Prozent festgestellt werden, dass die Jagd in der Schweiz tierschutzgerecht stattfindet.
Oder wie Paul Parin formuliert: „In jeder Zeit, an jedem Ort und in jeder Kultur wird anders gejagt. Jagd ist ubiquitär, hat aber einen viel geringeren Anteil am Schicksal der Menschen als der Krieg.“
Als wir aus dem Busch herauskommen, treffen wir eine ältere Amerikanerin mit ihrem Mann in Begleitung eines Massai. „Ich bin glücklich“, sagt sie. „Es ist mein Kindertraum gewesen, nach Afrika zu kommen.“ Woher wir kämen, will sie wissen. Ich antworte ihr ehrlich, und sie kommentiert unser Deutschsein mit dem Satz: „Aber sie sind ja so freundlich.“ Wir haben unbeabsichtigt zur Völkerverständigung beigetragen: „Nicht alle Deutsche sind Faschisten.“
Die Hadzabe spannen zum Abschied ihre Bögen und schießen zum Abschied auf einen Baum. Das tut keinem weh, es ist so etwas wie Theater, sagt unser Führer und alle sind sich einig, dass die Jagd der Hadzas das Fremde ins uns berührt hat.
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