Illegale Pushbacks nach Bosnien: Das 58. Mal
Keine EU-Grenze wird so streng bewacht wie die kroatisch-bosnische. Ein junger Afghane hat oft versucht, sie zu überwinden. Schafft er es diesmal?
Hasbib lächelt. Er heißt eigentlich anders. Er ist ein Mensch auf der Flucht, deshalb haben wir seinen Namen und die Namen aller Geflüchteten in dieser Geschichte aus Schutzgründen geändert.
Mit der Frühlingswärme, die in dem bosnischen Grenzdorf bei Velika Kladuša einbrach, kam für die etwa 150 Geflüchteten, die sich hier wie Hasbib in Abrisshäusern verstecken, auch der Startschuss, es wieder über die Berge nach Kroatien zu versuchen. Fast täglich laufen Kinder mit Rollkoffern, Mütter mit Babys vor der Brust, Väter mit Kleinkindern auf den Schultern an den unverputzten Dorfhäusern vorbei.
Das Dorf scheint ansonsten weitgehend verlassen zu sein. Die wenigen Häuser, die noch von Bosniern bewohnt sind, erkennt man an den Autos, die davor parken.
Kaum jemand schafft es
Gesäumt von Feldern und Waldstücken, liegt das Dorf nur etwa einen Kilometer entfernt von der kroatischen Grenze. Kurz hinter einem zerzausten Friedhof fängt der Waldweg an, den Dutzende Geflüchtete jeden Morgen entlanglaufen. Es ist der Weg in Richtung EU, in Richtung Kroatien, über die Berge versuchen sie, sich dorthin durchzuschlagen. Andere, vor allem Familien mit kleinen Kindern, nähern sich der unsichtbaren grünen Grenze und bitten die ersten Grenzpolizisten, die sie sehen, um Asyl.
Diese Grenze ist eine der längsten und am stärksten überwachten Grenzen der Europäischen Union. Es kommen auch Wärmebildgeräte zum Einsatz, die Bundesinnenminister Horst Seehofer der kroatischen Grenzpolizei übergeben hat. „Wir stehen Kroatien als Partner zur Seite“, hat er dazu gesagt, 350.000 Euro haben die zehn Geräte gekostet. Sie helfen, Menschen aufzuspüren, die sich dort aufhalten, wo sie nicht sein sollen. Auch deshalb schafft es kaum jemand mehr über die Grenze.
Vor zwei Tagen packte Azeem Hasbib, der mit 12 Jahren zusammen mit seiner Familie aus Herat in Afghanistan geflohen ist, seinen kleinen Rucksack zum 57. Mal mit frischem Wasser, um es über die verminten Berge in die EU zu schaffen. Der Weg über die Berge ist sehr gefährlich, 50.000 Landminen liegen immer noch dort im Boden, Relikte des kroatischen Unabhängigkeitskrieges. Erst am 5. März trat ein Asylsuchender aus Pakistan in der hügeligen kroatischen Gemeinde von Saborsko auf eine Mine. Er starb noch an der Unfallstelle. Vier weitere Männer wurden durch die Explosion verletzt, einer von ihnen schwer.
Zwei Monate zuvor war es Hasbibs Familie gelungen, in die EU zu gelangen – ohne ihn, da er mit einer weiteren Beinverletzung im Krankenhaus lag. „Nach 30 Kilometern erwischte uns die kroatische Polizei im Wald“, sagt er, „meinen Freund noch schlimmer als mich.“
Allein im vergangenen Jahr soll es laut dem Danish Refugee Council zu mehr als 16.000 illegalen Pushbacks von Kroatien nach Bosnien und Herzegowina gekommen sein. Die Vorwürfe von Menschenrechtsgruppen gegenüber Kroatien wiegen schwer: Nicht nur, dass Schutzsuchende nicht die Chance bekommen, einen Asylantrag zu stellen. Über 60 Prozent der illegalen Pushbacks verlaufen laut der dänischen Flüchtlingshilfsorganisation gewalttätig.
„Es sind immer Männer mit schwarzen Masken, an die wir von der kroatischen Polizei übergeben werden“, sagt der 41-jährige Khaled Rafat aus Kabul. „Sie schlagen auf die Schultern, damit man keinen Rucksack mehr tragen kann. Sie brechen die Arme, doch nicht die Beine, damit man noch 30 Kilometer zurücklaufen kann.“
Rafat steht in einem Abrisshaus inmitten der Stadt Velika Kladuša. Er trägt ein rotes Polo-Hemd, seine Frau Emira Espadrilles mit goldenen Glitzersteinen. Sie sehen aus, als wären sie auf dem Weg in die Stadt zum Einkaufen. Sie führen weiter in ein verrußtes Zimmer, in dem zwei Zelte und ein kleiner Ofen stehen. Rafat setzt sich auf einen umgedrehten Bierkasten und schürt den Ofen an. Zwei Ascheflocken setzen sich auf seinen dichten Wimpern ab.
„Oft brechen sie einem die Brillen und machen die Kinderwägen kaputt“, erzählt der Vater von drei Kindern. „Doch das Schlimmste sind nicht die Schläge, es sind ihre Worte.“ Rafat nimmt ein Einwegglas kochendes Wasser von dem Holzofen neben seinem Zelt und gießt Instant-Nudeln auf, die die Internationale Organisation für Migration, die IOM, an die gestrandeten Familien verteilt.
Die Männer mit den schwarzen Masken würden jedes Mal sagen, „dass sie im Auftrag von Deutschland und Frankreich handelten und dass wir in Bosnien bleiben sollen, weil wir Muslime sind“, sagt er.
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Vor einem Jahr hat die Familie das Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos verlassen. Über ein Jahr lang hatten sie auf einen Asylantrag gewartet, nur ein Teil der Familie wurde anerkannt, so hätten sie nicht zusammenbleiben können. „Obwohl wir alle die gleiche Fluchtgeschichte haben“, sagt Rafat. Sie entschlossen sich, über Albanien nach Bosnien zu reisen und es so wieder in die EU und nach Kroatien zu schaffen. „Unzählige Male“ hätten sie es seitdem versucht.
In einem Schwarzbuch der Pushbacks legte das Border Violence Monitoring Network der EU-Kommission im Dezember vergangenen Jahres 892 Zeugnisse von Geflüchteten wie von Azeem Hasbib oder Khalet Rafat vor. Sie erzählen von Hundebissen, erzwungenem Entkleiden und Haft ohne grundlegende Standards.
„Wer sind diese Menschen?“, fragt Rafat immer wieder. Manche hätten Hunde an der Leine und sagten, sie würden sie loslassen, wenn man nicht schnell genug nach Bosnien zurückrennt. „Ich bin im Krieg geboren“, sagt Rafat, „schauen wir zurück, sehe ich Krieg. Die Kroaten müssen verstehen, dass uns der Tod nicht abschreckt, um in Sicherheit zu gelangen.“
Seitdem Ungarn 2016 eine Mauer baute und auch Serbien die Grenze und damit die gewohnte sogenannte Balkanroute schloss, reisen immer mehr Menschen über Albanien und Montenegro nach Kroatien, um es weiter in Richtung Zentraleuropa zu versuchen. Doch für einige endet diese Entscheidung tödlich. In der Nacht vom 11. auf den 12. Februar machten sich sieben türkische Geflüchtete auf den Weg, die Grenze von Bosnien-Herzegowina nach Kroatien zu überqueren.
Namenlos verschwunden
Milo Javal lebt nur wenige Meter von der kroatischen Grenze entfernt. Er will gesehen haben, wie maskierte Männer die Schutzsuchenden zwangen, sich zu entkleiden, und sie dann in den Grenzfluss Glina trieben. „Das Wasser ist fünf bis sechs Meter tief und etwa 20 Meter breit“, sagt er. „Die Grenzpolizei schoss in die Richtung der Männer“, sagt Javal. Mehr konnte er an diesem Abend nicht erkennen. Am nächsten Tag berichtete die bosnische Lokalpresse, dass ein Mann tot geborgen worden war. Auf Anfrage bestätigte ein Polizeiberater, dass die kroatische Polizei den Toten geborgen hatte und die bosnischen Behörden damit keine weitere Auskunft über seine Identität oder Todesursache geben könnten.
„So verschwinden Menschen schon seit Jahren namenlos im Fluss“, sagt Javal. Er ist einer von Hunderten BosnierInnen an der Grenze, die Zeugen der Gewalt werden. Immer wieder versorgt er verletzte Menschen, die nach einem Pushback vor seinem Haus landen, erzählt er.
Javal hebt seine linke Faust in die Luft und klopft mit dem rechten Zeigefinger seine Hand ab, um zu zeigen, wo die Stacheln auf der Eisenkugel befestigt sind. Auch damit würden manche Grenzschützer gegen die Menschen vorgehen, „wie im Mittelalter“. Manchmal trieben die maskierten Männer die Fliehenden dann wieder aus dem kalten Wasser des Grenzflusses heraus, setzten sie in einen grauen oder schwarzen Van und würden die Klimaanlage auf die kälteste Stufe drehen, erzählt Javal.
Zurück auf der bosnischen Seite der Grenze bleiben viele Geflüchtete oft tagelang verletzt in den Wäldern zurück. Laut lokaler Vorschriften dürfen die Bosnier keinen Geflüchteten im Auto mitnehmen oder ins Krankenhaus bringen.
Obwohl die Pushbacks ausreichend dokumentiert werden, blieben sie bis jetzt meist folgenlos. In einer E-Mail beantwortet das kroatische Innenministerium die Anfrage der taz für ein Interview mit der Aufforderung, „Migranten über die legalen Wege der Einreise nach Kroatien“ zu informieren. Zudem weist das Innenministerium die mehrfachen Behauptungen über das brutale Vorgehen der Polizei gegenüber Geflüchteten „noch einmal vehement zurück“.
Das Schild Europas
Seit Dezember 2018 unterstützt die EU-Kommission Kroatiens Grenzschutz mit 6,8 Millionen Euro. Davon sollten 300.000 Euro für die Einrichtung eines Mechanismus zur Menschenrechtsbeobachtung verwendet werden. Vergangenen Sommer gab die kroatische Regierung an, der UNHCR und das Croatian Law Centre würden die Mittel erhalten und die Menschenrechtsbeobachtung umsetzen. Beide Organisationen stellten allerdings klar, dass sie nichts von dem Geld bekommen hätten.
„Ziel von Kroatien ist es, dass sie durch den Grenzschutz in den Schengen-Raum aufgenommen werden“, sagt eine Mitarbeiterin des Border Violence Monitoring Network. „Kroatien agiert als das Schild Europas, genau wie Griechenland.“
Doch auch wenn die EU Kroatien dabei unterstützt, könnten die Pushbacks diesem Ziel im Wege stehen. Vergangenen November kritisierten Europaabgeordnete die Pushbacks an der kroatischen Grenze.
Ylva Johansson, die zuständige EU-Kommissarin, sagte bei einem Besuch in einem bosnischen Flüchtlingslager, es sei „nicht akzeptabel, dass Menschen verprügelt und zurückgedrängt werden“.
Im gleichen Zug betonte Johansson aber auch die hohen Erwartungen der Europäischen Kommission an Bosnien und Herzegowina, damit das Land ein aufstrebender Kandidat für eine EU-Mitgliedschaft bleibe.
Auch Milo Javal kann sich nicht vorstellen, dass diese apokalyptischen Szenen von irgendwem gewollt sind. „Wie kann ich mich versöhnen mit einer Welt, die das zulässt?“, fragt er. „Der Krieg ist hier seit 26 Jahren vorbei. Als Soldat habe ich selbst so viele schlimme Dinge gesehen, jetzt wiederholen sie sich jeden Tag vor meiner Haustür“, sagt er.
Kurze Zeit später bekommen wir eine Nachricht von Azeem Hasbib. „Ich habe es geschafft. Ich bin in Kroatien. Beim 58. Mal hat es geklappt.“
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