"Il Manifesto" wird 40: "Wir sind nicht allein auf der Welt"

Italiens einst starke Linke ist verschwunden - ihre Zeitung "il manifesto" überlebte im System Berlusconi und wird nun 40. Ein Gespräch mit Chefredakteurin Norma Rangeri.

Historisches Redaktionsfoto vor noch historischerem Gemälde: die Redaktionsräume von "il manifesto" 1988. Bild: Gianni Berengo Gardin/contrasto/laif

taz: Frau Rangeri, als il manifesto 1971 erstmals als Tageszeitung erschien, gab es in Italien die größte Kommunistische Partei des Westens, mächtige Gewerkschaften und eine starke radikale Linke. Heute scheint von alldem nichts mehr geblieben - außer il manifesto.

Norma Rangeri: In unserer Kopfzeile steht heute noch "quotidiano comunista" - "Kommunistische Tageszeitung". Und in der Tat war die Kommunistische Partei Italiens (KPI) bei unserem Entstehen gewissermaßen unser Gegenüber. Wir wollten damals deutlich machen, dass man kommunistisch sein konnte, ohne für die Sowjetunion einzutreten, ohne für den "real existierenden Sozialismus" Partei zu ergreifen, dass man sich als Kommunist eine libertäre Einstellung bewahren konnte.

Aus dieser Haltung heraus polemisierten wir gegen die KPI, der gegenüber wir uns als Häretiker fühlten. Dann brach 1989 die Welt des real existierenden Sozialismus zusammen - und für uns wurde es damit deutlich komplizierter, eine "kommunistische Tageszeitung" zu sein.

Trotzdem halten Sie eisern an Ihrer Tradition fest.

Wir haben immer wieder diskutiert, ob wir den Namenszusatz streichen sollen. Uns war das Gegenüber, an dem wir uns abarbeiteten, abhandengekommen. Bisher haben wir uns aber für die Beibehaltung entschieden, denn daraus ist so etwas wie eine Marke geworden, an der wir sehr hängen. Auch wenn sich wirklich alles um uns herum geändert hat, das globale Szenario und vielleicht noch mehr das italienische.

Seit fast 20 Jahren leben wir unter dem Berlusconi-Regime, das unser Land nicht bloß politisch, sondern auch anthropologisch radikal verändert hat. Heute haben wir mit Jugendlichen zu tun, die unter Berlusconi aufwuchsen, die nur diese Kultur, dieses Fernsehen, diese Politik kennen. Und doch haben wir gerade in den letzten Monaten wieder mächtige Protestbewegungen erlebt, die all das sehr laut infrage stellen. Das gibt uns vom manifesto das Gefühl, dass wir nicht allein auf der Welt sind, sondern immer noch wie Fische im Wasser schwimmen.

Die 59-jährige italienische Journalistin schreibt seit 1974 für il manifesto und ist seit Mai 2010 Chefredakteurin der Zeitung. Il manifesto wurde 1969 von einer Gruppe Kommunisten um Rossana Rossanda gegründet. Heute hat die Zeitung eine Auflage von bis zu 35.000 Exemplaren.

Aber in Italien sind die Kommunisten nicht einmal im Parlament. Welchen Sinn hat dann Ihr Kommunismus?

Wir sehen, dass die Welt gerade nach dem Ende der Blöcke heftigen Erschütterungen ausgesetzt ist, egal ob wir von der globalen Krise sprechen oder von Kriegen. Es gibt ein großes Bedürfnis, eine große Nachfrage nach radikalem Wandel der Paradigmen. Dieser Kapitalismus hat sein brutales Gesicht gezeigt. Ich denke da zum Beispiel an die Immigration - an die Möglichkeit, sich frei zu bewegen. Wir erleben eine Festung Europa, die sich abschottet und die zum Spielball der Populismen wird. Dem halten wir unseren Kommunismus als Idee der Humanität entgegen. Nicht als Ideologie, sondern als Vorstellung von einem anderen Leben.

Sie wollten immer eine Zeitung sein, die Politik nicht bloß kommentiert, sondern auch macht. Wie geht das heute, angesichts der Krise der radikalen Linken?

Heute sind wir vielleicht wichtiger denn je, denn wir sind der Ort geblieben, an dem alle aus der zerstrittenen und gespaltenen Linken miteinander kommunizieren können. In Turin, in Bologna, in Florenz und zahlreichen anderen Städten sind in letzter Zeit "Zirkel des manifesto" entstanden, die zu Foren der offenen Diskussion zwischen verschiedenen linken Stimmen geworden sind, die zugleich vor Ort wichtige Themen in die Zeitung hineintragen - und die Initiativen zur Unterstützung von il manifesto organisieren.

Wer liest Sie heute eigentlich noch?

Ich habe im Vorfeld unseres Jubiläums unsere Leser gebeten, uns in Briefen zu erzählen, wie sie mit il manifesto in Kontakt geraten sind. Ein Großteil derer, die antworteten, sind "historische Leser", Leute, die seit den siebziger Jahren dem manifesto treu sind. Daneben haben wir aber auch die, die erst viel später auf uns stießen - auch viele wirklich junge Leser. Gemeinsam haben sie eine sehr hohe Bindung ans Blatt - auch die, die uns nur dreimal die Woche kaufen, weil sie kein Geld haben, oder die, die uns abonnieren, obwohl der Vertrieb nicht funktioniert und sie uns oft mit einem Tag Verspätung kriegen.

Auch bei seinen Gegnern ist il manifesto hoch angesehen, und doch schwächelt die Auflage der Zeitung seit Jahren. Warum?

Erst mal sind auch wir Opfer der generellen Zeitungskrise in Italien: Im Vergleich zu 1945 ist die Druckauflage aller Titel gesunken - auf insgesamt nicht einmal 5 Millionen. Und dieser Trend setzt sich gegenwärtig fort. Für uns kommt außerdem die Krise der Linken hinzu. Eine Krise auch der Hoffnungen, die am Glauben zweifeln lässt, dass sich etwas ändern könnte. Das wirkt sich auch auf unsere Auflage aus.Und schließlich kommt das Internet hinzu: Gerade junge Leute lesen uns dort.

Apropos: Wie arbeiten eigentlich die Generationen in der Redaktion zusammen?

Die jüngeren Redaktionsmitglieder haben nicht die gleichen Erfahrungen in politischen Bewegungen gemacht - und das ist nicht unbedingt ein Plus. Zugleich sind sie freier von Ideologien, auch von vorgefertigten Einstellungen. Das merken wir auch, wenn es um die aktuellen Bewegungen in Nordafrika geht.

Wegen Ihrer Libyen-Berichterstattung drohten viele Leser in Briefen, ihr Abo zu kündigen.

Es gab Leserbriefe von beiden Seiten. Die einen warfen uns vor, zu Gaddafi-freundlich zu sein, die anderen, dass wir den Nato-Einsatz unterstützten. Meine Linie ist, allen eine Stimme zu geben. Auch auf das Risiko hin, zum vielstimmigen, alles andere als eindeutigen Chor zu werden. So wurden wir zur einzigen linken Zeitung, in der es überhaupt eine echte Debatte zum Thema gab.

Generell steht il manifesto klar links - und ist doch pluralistisch im Inneren. Wie funktioniert das im Redaktionsalltag?

Wir haben kein Zentralkomitee. Keiner von uns beansprucht, das allein selig machende Erfolgsrezept für die Linke in der Tasche zu haben. Wir versuchen, gemeinsame Punkte herauszukristallisieren, aber das gelingt nicht immer. Schon in der Frage, wie der Berlusconismus einzuschätzen und zu bekämpfen ist, gibt es zum Beispiel ganz verschiedene Auffassungen. Wir hatten eine sehr lebhafte Debatte darüber, wie man aus der aktuellen Pattsituation herauskommen und Berlusconi vom Sockel stoßen kann - ob dazu ein nach rechts offenes, sehr breites Bündnis bis hin zu Gianfranco Fini gesucht werden muss. Viele von uns meinen das, andere sehen darin eine Verirrung der Linken.

Und jetzt kommen die nächsten 40 Jahre für il manifesto?

Ob es uns in 40 Jahren noch gibt, steht in den Sternen. Wir stecken in vielerlei Hinsicht in einer hässlichen Situation, egal ob wir von unserer finanziellen Lage sprechen oder von der politischen Großwetterlage. Aber jetzt feiern wir erst einmal.

Am 28. April um 19 Uhr diskutieren im Berliner taz-Cafe Journalisten von und . Thema: Wer braucht heute noch eine "kommunistische" Tageszeitung?
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