Hungerkatastrophe Holodomor in Ukraine: Einstufung als Genozid rückt näher
Ampelkoalition und Union wollen die Hungersnot, der Millionen Ukrainer:innen zum Opfer fielen, als Völkermord anerkennen. Das ist umstritten.
Die vier Fraktionen unterstützen damit die Sicht der Ukraine, die seit Langem fordert, den Holodomor als Genozid einzustufen. „Einseitige russische historische Narrative“ werden in dem Antrag scharf zurückgewiesen. Die Bundesregierung soll Bildungsangebote schaffen, um Wissen über Stalins repressive Zwangskollektivierung weiterzuverbreiten. Zudem soll die Regierung „die Ukraine als Opfer der imperialistischen Politik Wladimir Putins weiterhin politisch, finanziell, humanitär und militärisch unterstützen“.
Die Kernsätze des Antrags lauten: „Betroffen von Hunger und Repressionen war die gesamte Ukraine, nicht nur deren getreideproduzierende Regionen. Damit liegt aus heutiger Perspektive eine historisch-politische Einordnung als Völkermord nahe. Der Deutsche Bundestag teilt eine solche Einordnung.“
Der Bundestag bezeichnet den Holodomor damit als Völkermord, auch wenn die Formulierung etwas distanziert klingt. Völkermord ist ein mehrdeutiger Begriff. Er ist seit 1948 eine Straftat im Völkerstrafrecht, aber auch eine historische Kategorisierung, etwa in Abgrenzung zu Massenmorden und Pogromen, und ein politischer Begriff. Das Spezifische des Begriffs Völkermord – Genozid ist ein Synonym – ist, dass er eine Straftat ist, für die keine Verjährung vorgesehen ist.
Virulent wurde dies bei den Verhandlungen über die von Deutschen 1904 bis 1908 verübten Mordaktionen an Herero und Nama. Die Bundesregierung erkannte in dem Vertrag 2021 das Geschehen als Völkermord an, zahlt freiwillig über 30 Jahre 1,1 Milliarden Euro an Namibia, ohne allerdings Entschädigungsverpflichtungen zu akzeptieren.
Den Holodomor haben bislang 15 Staaten als Genozid anerkannt, halb so viele wie den Mord an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915. Auch das EU-Parlament war 2008 zurückhaltend mit dem Begriff. Es handele sich um „ein schreckliches Verbrechen am ukrainischen Volk und gegen die Menschlichkeit“, die Bezeichnung Genozid fehlt.
Laut der Definition von 1948 ist Genozid der Versuch, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Dieser Definition zufolge spielt das Ausmaß des Verbrechens, die Zahl der Opfer, eine untergeordnete Rolle. Entscheidend ist, dass die Täter planvoll (und nicht nur situativ) eine der genannten Gruppen vernichten wollen. Das trifft für die Verfolgung der Juden nach 1933 ebenso zu wie für die der Armenier 1915 und der Tutsi in Ruanda 1994.
Im Fall der Ukraine 1932 gehen die Meinungen auseinander. Das Ausmaß der Zerstörung ist unstrittig. Doch kann von einer geplanten und gezielten Vernichtung der Ukrainer als Ethnie die Rede sein? Manche Historiker halten dies für die Spätphase des Terrors gegen die Kulaken 1933 für gegeben. Andere bezweifeln hingegen, ob von einem Genozid gesprochen werden kann, weil der Vernichtungsvorsatz gegen eine ethnische Gruppe fehle. Im Antrag des Bundestags heißt es, dass „die massenhafte Tötung durch Hunger auch auf die politische Unterdrückung des ukrainischen Nationalbewusstseins“ zielte.
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