Hunger in Nordäthiopien: Die Lage in Tigray ist dramatisch
In der nordäthiopischen Region Tigray droht eine Hungersnot, Millionen Menschen sind auf Hilfe angewiesen. Es häufen sich Berichte über Terror.
„Jedes Mal, wenn wir ein neues Gebiet erreichen, treffen wir auf einen Mangel an Nahrung und Wasser, erschöpfte Gesundheitsdienste und viel Angst in der Bevölkerung. Alle bitten um Essen“, sagt Mari Carmen Vinoles von Ärzte ohne Grenzen nach einer ersten Erkundungsmission in ländlichen Gebieten außerhalb der Städte Adrigat und Axum.
Die Hälfte der Bevölkerung in Tigray braucht Hilfe, schätzt die UNO. Berhane Gebretsadik von der neu eingesetzten Tigray-Interimsverwaltung gab während eines Treffens mit UN-Offiziellen und Hilfswerken am 8. Januar zu, dass „Menschen hungern“. Nothilfe werde dringend gebraucht, sonst „könnten Hunderttausende verhungern“. Als die Kämpfe Anfang November 2020 begannen, stand die Erntesaison kurz bevor – viele Bauern mussten fliehen und ließen Äcker und Ernte im Stich.
Dazu kommt der Terror ethnischer Milizen aus anderen Gebieten, die die nationale Armee gegen die TPLF unterstützen. Kämpfer aus der Nachbarregion Amhara werden massiver Verbrechen bezichtigt. Tigray und Amhara sind historische Rivalen um die Macht in Äthiopien, und die beiden Regionen streiten überdies um die gemeinsame Grenze.
Journalisten kommen nicht in die Region
Auch Soldaten aus dem Nachbarland Eritrea sollen in Tigray zur Unterstützung der äthiopischen Armee aktiv sein und dabei Plünderungen und Vergewaltigungen verüben. Die neue US-Regierung von Präsident Joe Biden fordert ihren sofortigen Abzug. Die Nachrichtenagentur AP zitiert einen Sprecher des US-Außenministeriums: „Es gibt glaubwürdige Berichte über Plünderungen, sexuelle Gewalt, Übergriffe in Flüchtlingslagern und andere Menschenrechtsverletzungen. Es gibt auch Hinweise darauf, dass eritreische Soldaten eritreische Flüchtlinge gewaltsam von Tigray nach Eritrea zurückbringen.“
Vor zwanzig Jahren war Äthiopien, regiert von einer TPLF-dominierten Regierung, gegen Eritrea in einen blutigen Grenzkrieg verwickelt. Der seit 2018 amtierende äthiopische Ministerpräsident Abiy Ahmed von Äthiopiens größter Volksgruppe, der Oromo, schloss Frieden mit dem einstigen Erzfeind, wofür er 2019 den Friedensnobelpreis erhielt.
Jetzt kämpfen sie gemeinsam gegen die TPLF. Eritrea begleicht damit alte Rechnungen. Obwohl die äthiopische Regierung bestreitet, dass eritreische Truppen in Tigray sind, hat selbst die äthiopische Menschenrechtskommission berichtet, das eritreische Soldaten plünderten.
Rund 50.000 Tigrayer sind nach Sudan geflohen und zahlreiche Frauen erzählen dort von Vergewaltigungen. Eine Kaffeeverkäuferin, die auf der Flucht von ihrer Familie getrennt wurde, berichtete, dass ein äthiopischer Soldat, dem sie begegnete, sie vor eine grauenhafte Wahl stellte: „Entweder ich bringe dich um oder ich vergewaltige dich“, habe er gesagt, erzählte sie einem Arzt in einem Flüchtlingslager in Sudan. Es ist unmöglich, solche Aussagen zu verifizieren, weil Journalisten nur selten nach Tigray gelassen werden. Selbst für Hilfswerke sind nicht alle Teile der Region zugänglich.
Das gleiche gilt für Berichte über den Einsatz somalischer Soldaten in Eritreas Armee in Tigray. Bei Demonstrationen in Somalias Hauptstadt Mogadischu und anderswo fordern Mütter Aufklärung über das Schicksal ihrer Kinder, von denen sie lange nichts gehört haben. „Ich habe gehört, dass unsere Kinder, die zur militärischen Ausbildung nach Eritrea geschickt wurden, Abiy übergeben wurden, um für ihn zu kämpfen“, sagte Fatuma Moallim Abdulle, die Mutter eines 20-jährigen Soldaten. Die somalische Regierung dementiert.
Von Äthiopiens Premier Abiy sieht oder hört man seit zwei Wochen nichts mehr. Er reagierte nicht einmal auf die Meldung der äthiopischen Armee, sie habe historische TPLF-Führer in den Bergen aufgespürt und getötet – darunter der respektierte ehemalige äthiopische Außenminister Seyoum Mesfin (71).
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Aufregung um Star des FC Liverpool
Ene, mene, Ökumene
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel