Hunderte Kinderskelette in Irland: „Ausgeburten des Satans“
Eine irische Historikerin hat 800 Kinderleichen aufgespürt. Sie starben in einem Heim für „gefallene Mädchen“, geführt von einem katholischen Orden.
DUBLIN taz | Tuam ist eine wenig bemerkenswerte Ortschaft in der westirischen Grafschaft Galway. Sie hat ein wenig Bekanntheit erlangt, weil die lokale Folkrockgruppe Saw Doctors der Nationalstraße 17, die durch Tuam führt, ein Lied gewidmet hat. Außerdem wurde die Bahnstrecke um Tuam für Filmaufnahmen für „Der Ausgestoßene“ mit John Wayne benutzt. Die Strecke wurde jedoch 1978 geschlossen, der Bahnhof von Tuam steht leer.
Der Name des Orts stammt vom lateinischen „Tumulus“ ab – Grabhügel. 1875 hat man in Tuam eine Urne aus der Zeit um 1500 vor unserer Zeitrechnung gefunden. Einen weitaus grausigeren Fund machte die Historikerin Catherine Corless. Sie hat herausgefunden, dass zwischen 1925 und 1961 fast 800 Kinderleichen in einem Abwassertank auf dem Gelände eines Heims für „gefallene Mädchen“ – also ledige Mütter – abgelegt worden sind.
Corless ermittelte, wie vergangene Woche bekannt wurde, dass die Leichname in einem Massengrab hinter dem ehemaligen Heim verscharrt worden waren, manche hatte man einfach in den Abwassertank auf dem Gelände geworfen. Viele waren Neugeborene, das älteste Kind war neun Jahre alt. Die Kinder sind an Masern, Lungenentzündung oder Tuberkulose gestorben, die meisten sind einfach verhungert.
Das Heim wurde von Nonnen des katholischen Ordens Bon Secours Sisters betrieben. Das Gebäude war zuvor ein Arbeitslager für Obdachlose. Als die Nonnen es 1925 übernahmen, ließen sie den Abwassertank umbauen, so dass sie die Leichen entsorgen konnten. Sie sahen ihre Aufgabe darin, die Mütter und ihre Kinder büßen zu lassen, sagt eine Überlebende. Als sie ihr Kind unter großen Schmerzen ohne Medikamente oder adäquate Hilfe zur Welt brachte, flüsterte ihr eine Nonne ins Ohr: „Waren die fünf Minuten Spaß das wert?“ Die Nonnen hielten die Kinder für „Ausgeburten des Satans“, sagt sie, und dementsprechend wurden sie behandelt. Ein Drittel der Kinder starb im ersten Lebensjahr – eine Statistik, die eigentlich im 17. Jahrhundert üblich war.
Vierjährige musste sich um Babys kümmern
Eine andere Überlebende erzählt, dass Vierjährige sich um sechs bis acht Babys kümmern mussten. Ab einem Alter von sieben oder acht Jahren wurden die Kinder in „industrial schools“ verlegt – kircheneigene Arbeitslager, wo sie ohne Bezahlung schwerste Arbeiten verrichten mussten und obendrein körperlich und sexuell misshandelt wurden.
Diese Einrichtungen gab es bis Anfang der neunziger Jahre, ebenso wie die Heime für „Magdalenen-Mädchen“. Das waren nicht nur ledige Mütter, sondern auch Frauen, die mit 30 noch unverheiratet waren und als Gefahr für verheiratete Männer eingeschätzt wurden oder dem Klerus zu selbständig waren. Sie wurden manchmal sogar von der eigenen Familie in Nonnenkloster gegeben, wo sie wie Sklavinnen gehalten und nach ihrem Tod auf dem Klostergelände anonym begraben wurden.
In Irland hat es bereits vier große Untersuchungen über massenhaften Kindesmissbrauch in katholischen Einrichtungen gegeben, die eine Vertuschung durch Klerus, Polizei und Politiker ans Licht brachten. Die Bevölkerung duldete dies aufgrund der Macht der Kirche. Dem Parlament waren die Zustände in den Heimen damals bekannt: In einem parlamentarischen Bericht aus dem Jahr 1934 heißt es, dass ein Drittel der Kinder lediger Mütter im ersten Lebensjahr sterbe.
Hohe Suizidrate
Die Schlussfolgerung daraus klingt zynisch. Der konservative Abgeordnete Conn Ward sagte damals: „Man muss zu dem Ergebnis kommen, dass diese Kinder nicht die gleiche Fürsorge und Aufmerksamkeit erhalten haben wie normale Kinder.“
Tuam ist kein Einzelfall. Im ganzen Land sind Kinder und Babys in anonymen Gräbern verscharrt, wo immer eine katholische Einrichtung zugange war. Darüber hinaus ist die Suizidrate unter Menschen, die in ihrer Kindheit dem katholischen Klerus in die Hände gefallen waren, laut Statistik zehnmal höher als der Landesdurchschnitt. In einem anderen Heim, Sean Ross Abbey in Tipperary, lag die Säuglingssterblichkeit 1930 bei 50 Prozent. Die Überlebenden wurden oft an kinderlose Familien im Ausland, vor allem in den USA, verkauft.
Eine Bridget Dolan hat 1946 und 1950 zwei Jungen in Tuam zur Welt gebracht. John Dolan starb 1947, aber für William Dolan gibt es keine Sterbeurkunde. Ein Verwandter, der anonym bleiben will, möchte herausfinden, was mit ihm passiert ist: „Er könnte von US-Amerikanern adoptiert worden und noch am Leben sein. Oder er liegt neben seinem Bruder im Wassertank.“
Randvoll mit Knochen
Die Skelette in diesem Tank sind schon 1975 entdeckt worden. Der damals zehnjährige Barry Sweeney und sein zwölfjähriger Freund Francis Hopkins spielten auf dem Gelände und entdeckten eine Betonplatte. Als sie die Platte zur Seite schoben, fanden sie den Tank randvoll mit Knochen. Niemand forschte jedoch nach. Die Anwohner glaubten, es handle sich um Opfer der Hungersnot Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie errichteten eine kleine Grotte mit einer Marienstatue und mähten das Gras regelmäßig. Das Heim war bereits in den sechziger Jahren abgerissen worden. Heute ist es von einer Wohnsiedlung umgeben.
Erst Catherine Corless machte sich die Mühe, der Sache auf den Grund zu gehen. „Ich befürchte, dass die Sache wieder vertuscht wird, wenn wir jetzt nicht nachforschen“, sagt sie. Sie fordert eine öffentliche Untersuchung des Heims und wird darin von mehreren Abgeordneten unterstützt. Der Dubliner Erzbischof Diarmuid Martin schlug hingegen vor, dass sich „ein sozialgeschichtliches Projekt ein akkurates Bild dieser Heime im Rahmen der Geschichte unseres Landes“ machen sollte. Eine Abordnung von Bon-Secours-Nonnen will sich mit ihm treffen, um zu beraten, wie man „am besten diejenigen ehren kann, die in dem Heim gestorben sind“.
Die irische Journalistin Emer O’Toole hält das für einen weiteren Missbrauch der Kinder. Sie meint, an den Klerus gewandt: „Sagt keine katholischen Gebete für diese Kinder. Beleidigt diese Kinder nicht, die zu Lebzeiten von euch verachtet und missbraucht wurden. Erzählt uns stattdessen, wo die übrigen Kinder aus den Heimen in ganz Irland verscharrt sind.“ Die Regierung in Dublin erwägt, eine Untersuchung über alle Heime einzuleiten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen