Humanitäre Notlage in Gaza: Über Leben in Gaza
Der Fotograf Ahmed Jarbou dokumentiert mit seinen Fotos den Willen der Menschen in Gaza, weiterzuleben – trotz der massiven Zerstörung um sie herum.
Deir al-Balah – 22. August 2024 um 8.34 Uhr
E in Mensch kann seine Liebe zum Leben überallhin mitnehmen – selbst unter den schwierigsten Bedingungen. Trotz der Vertreibung durch den Krieg bleibt der Wille, an der Erde festzuhalten und sie zu bepflanzen – auch wenn es nur im Umfeld eines einfachen Zelts am Meeresufer ist. Egal, wie die Umstände sind, scheint es den Drang zu geben, mit der Natur in Verbindung zu bleiben. Die Pflanzen rund um das Zelt sind nicht bloß Gewächs, sondern ein Beweis dafür, dass der Mensch, der hier lebt, in sich eine Liebe zum Leben und den Wunsch zum Weitermachen trägt – trotz der Vertreibung und des Verlusts seines einstigen Hauses.
Ahmed Jarbou
ist 24 Jahre alt. Er stammt aus Rafah in Südgaza und ist derzeit aufgrund der Vertreibung durch das israelische Militär in Al-Mawasi, Chan Yunis. Er hat Krankenpflege studiert und arbeitet als Fotograf. Seine Eindrücke aus dem Kriegsgebiet hat er in Form von tagebuchartigen Fotografien festgehalten.
Ich sah jemanden, der sich um die Pflanzen rund um sein Zelt kümmerte, sie goss und sorgfältig ordnete. Als wollte er eine natürliche Umgebung inmitten eines erdrückenden Alltags schaffen. Es wurde mir klar, dass dieser Ort mehr als eine bloße Notunterkunft ist. Ich glaube, dass der Bewohner des Zeltes diesen kleinen Raum seinem alten Zuhause ähnlich machen wollte. Es schien, als wäre das Gärtnern seine Art, dem erzwungenen Exil zu trotzen. Diese Szene war sehr bewegend für mich.
Chan Yunis – 8. September 2024, 17 Uhr
Ich lief mitten durch die Trümmer der zerstörten Häuser und Straßen, nachdem die israelische Besatzungsarmee den Bewohnerinnen und Bewohnern von Khan Younis die Rückkehr in das Gebiet erlaubt hatte. Trotz des Verlusts sämtlicher Habseligkeiten und der Vernichtung von Wohnstätten sah ich, wie die Menschen versuchten, ihr Leben wieder aufzubauen. In jeder Ecke – gleich wie stark die Verwüstung war – konnte ich Standhaftigkeit und Entschlossenheit wahrnehmen.
Inmitten der Trümmer fand ich auch einen Baum, der ebenfalls von den Raketeneinschlägen getroffen worden war und dessen Stamm dabei zerstört wurde. Das hinderte jedoch die feuerroten Blüten des Baums nicht daran, wieder zu erblühen. Ich denke, dieser Baum, den ich mit meiner Kamera einfing, spiegelt in gewisser Weise uns Menschen selbst wider. Trotz all der Zerstörung, trotz des Schmerzes, des Verlusts und der Hilflosigkeit gibt es Schönheit in Gaza. Es gibt den Willen, weiter zu leben.
Unabhängig von allem, was geschieht, bleibt Hoffnung immer bestehen. Im Koran steht, dass mit der Erschwernis die Erleichterung kommt. Ich glaube, so werden auch wir eines Tages wieder erblühen, wie die wunderschönen Blüten dieses Baums.
Deir al-Balah – 26. November 2024, 13.12 Uhr
Kinder scheinen auch unter den schwierigsten Umständen Freude finden zu können. Das kleine Mädchen, das zwischen den Zelten Seil springt, hat es geschafft, auch die Aufmerksamkeit einiger Erwachsener in diesem Augenblick auf sich zu ziehen. Während sie spielte, zauberte sie sogar das ein oder andere Lächeln in einige traurigen Gesichter, die sonst immer in Gedanken verloren sind. Zumindest für einen kurzen Moment schienen sie die Trauer vergessen zu haben.
Das Lachen des Mädchens war wie ein Sonnenstrahl, der sich durch die Wolken kämpfte, die über ihr waren. Voller Energie sprang sie im gleichmäßigen Rhythmus, während im Hintergrund ein großer Schriftzug, „Rettet Gaza“, auf einem der Zelte zu lesen war. Ein Foto, das Unschuld und Leid zugleich zeigt und die Widersprüche dieser Welt, in der es nicht selbstverständlich ist, dass jedes Kind Sicherheit und ein Leben fern von Zerstörung und Tod verdient.
Chan Yunis – 12. Dezember 2024, 11.55 Uhr
Dieses Foto zeigt die Realität der Schulen, die sich durch den Krieg in Notunterkünfte für Vertriebene verwandelt haben. Die Schulgebäude sind keine Orte des Lernens mehr, sondern Zufluchtsorte für Familien, die ihre Häuser verloren haben und nach jedem verfügbaren Raum suchen, um sich vor der Kälte des Winters und der Hitze des Sommers zu schützen.
Für mich zeigt es das Ausmaß des Leids der Vertriebenen, die gezwungen sind, unter schwierigen Bedingungen an Orten zu leben, die nicht für Wohnzwecke gedacht sind. Ich erinnere mich an den Moment, als ich das Gebäude betrat. Die Schule war überfüllt mit Familien. Kinder spielten in den Fluren, während Frauen dabei waren, Kleidung zu waschen, sie zu ordnen und anschließend am Balkon aufzuhängen, um sie zu trocknen. Schulbänke wurden als Schlafplätze genutzt. Als Alternative gab es nämlich nur den kalten Boden.
Die Szene spiegelte eine neue Realität wider, die der Krieg uns aufzwang – die Schule hatte ihre eigentliche Funktion verloren und wurde zur Zufluchtsstätte für Dutzende von Familien, die nicht wissen, wann und ob sie in ihre Häuser zurückkehren können. Die einstigen Lernorte zeigen den Mangel an grundlegendsten Lebensnotwendigkeiten.
Chan Yunis – 30. Dezember 2024, 7.25 Uhr
Der Mann mit der roten Daunenjacke, der zwischen den Zelten umhergeht: Mitten im Winter und während des Krieges versucht er, trotz der Zerstörung um ihn herum und des trüben Wetters, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich sah den Verkäufer schweigend gehen. Seine Schritte waren bestimmt und doch ruhig. Trotz der Kälte und des Regens scheute er sich vor keiner Herausforderung. Während er seine Waren mit sich trug, beobachteten ihn die Kinder aus den Zelten mit ihren großen und neugierigen Augen.
Ich war beeindruckt von dieser Szene und von der Standhaftigkeit und Entschlossenheit des Mannes inmitten des Krieges. Im Hintergrund spannte sich ein Regenbogen über den grauen Himmel. Er schien mehr zu sein als nur ein Naturphänomen – fast so, als würde die Natur selbst den Mut dieses Mannes anerkennen. Der Himmel schien ihm zuzuzwinkern, als wollte er sagen: Nach jedem Sturm kommt Licht.
Übersetzung aus dem Arabischen: Elias Feroz
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