Humanitäre Lage in Gaza: Alle Wege führen nach Rafah
Seit Tagen laufen Verhandlungen, den ägyptischen Grenzübergang zu öffnen, um Hilfsgüter nach Gaza zu liefern. Aber das entscheidet Ägypten nicht allein.
Doch seit dem Hamas-Überfall auf Israel ist der Grenzübergang geschlossen. Viermal wurde seitdem dessen unmittelbare Umgebung durch Israel bombardiert, dabei gab es auch Verletzte auf der ägyptischen Seite. Das letzte Mal hat Israel den Übergang auf palästinensischer Seite am Montagabend bombardiert. Auf dieser Seite klafft ein Krater in der Zugangsstraße.
Seit Tagen laufen nun Verhandlungen, in denen Ägypten, Israel und die Hamas auch mit US-Vermittlung in Kontakt stehen. Ägypten versucht dabei ein Junktim. Es möchte die Ausreise von Menschen mit ausländischen Pässen, darunter auch Deutsche und Österreicher, damit verbinden, dass humanitäre Hilfe in den Gazastreifen ungehindert hineingeliefert werden kann. Am Montag sah es kurz so aus, als wäre dafür ein mehrstündiger Waffenstillstand vereinbart worden. Aber diese Meldung wurde schnell sowohl von Israel als auch von der Hamas dementiert.
„Die israelische Regierung hat bisher noch keine Position bezogen zu der Möglichkeit, den Grenzübergang Rafah zu öffnen“, erklärte der ägyptische Außenminister Samih Schukri bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit seiner französischen Amtskollegin Catherine Colonna am Montagvormittag in Kairo. Über eine Luftbrücke zum Flughafen im ägyptischen al-Arisch landeten bereits zahlreiche Hilfslieferungen. Auch EU-Staaten wollen im Laufe der Woche humanitäre Güter nach al-Arisch liefern, kündigte Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen an.
Zudem verdreifacht die EU ihre humanitäre Hilfe auf über 75 Millionen Euro, um der Zivilbevölkerung in Gaza zu helfen. Am Dienstagmorgen wurden Teile der bereits vorhandenen Lieferungen in Richtung des Grenzübergangs Rafah gebracht, in der Erwartung, dass der Übergang demnächst geöffnet wird, bevor eine israelische Bodenoffensive in Gaza startet. Hunderte von Lkws warten dort bereits darauf, Einlass in den Gazastreifen zu bekommen.
Die ägyptische Regierung steht unter Druck der Öffentlichkeit, endlich humanitäre Hilfe in den Gazastreifen zu bringen. Aber es ist der potenzielle Verkehr in die andere Richtung, der ihr Sorgen macht. Sie fürchtet einen palästinensischen Exodus aus dem Gazastreifen aus Sicherheits-, Wirtschafts- und vor allem politischen Gründen.
Der ägyptische Präsident und ehemalige Militärchef Abdel Fattah al-Sisi und sein Sicherheitsapparat fürchtet ein Infiltrieren von Hamas-Kämpfern nach Ägypten und in den Nordsinai, wo die ägyptische Armee ohnehin schon seit Jahren in einem Katz-und-Maus-Spiel gegen lokale militante islamistische Gruppen kämpft. Die Hamas ist auch ein Sprössling der ägyptischen Muslimbruderschaft, die seit der Machtübernahme des Militärs in Ägypten 2013 heftig bekämpft wird. Vertreter der Muslimbrüder sind entweder im Exil, sitzen in Ägypten zu Tausenden im Gefängnis oder leben im Untergrund. Jede Hamas-Infiltration nach Ägypten wird beim dortigen Sicherheitsapparat die Alarmglocken läuten lassen.
Der zweite Grund für das ägyptische Zögern ist ein wirtschaftlicher. Im hochverschuldeten Ägypten, das wirtschaftlich an der Wand steht, leben, laut Weltbank über 60 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze oder stehen kurz davor, unter diese abzustürzen. Ägypten beherbergt schon heute Millionen Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak, Äthiopien, Eritrea und andren afrikanischen Ländern. In den letzten Monaten kamen dann Hunderttausende Menschen dazu, die vor dem Krieg im Sudan geflohen sind.
So sind wohl auch Aussagen von ägyptischen Offiziellen zu verstehen, die die europäische Seite warnen. „Ihr wollt, dass wir eine Million Menschen aufnehmen. Wir könnten sie ja nach Europa schicken. Wenn euch die Menschenrechte so wichtig sind, dann nehmt ihr sie doch“, wird ein nicht namentlich genannter hoher ägyptischer Beamter in der Financial Times zitiert.
Der dritte Grund ist ein politischer und ein in Ägypten sehr tief sitzender. Ägypten befürchtet, ein Teil eines größeren Vertreibungsplans gegen die Palästinenser aus dem Gazastreifen zu werden. Ein Szenario, das seit der 15-jährigen israelischen Blockade des Gazastreifens in Ägypten immer wieder diskutiert wird. Dabei geht es weniger darum, die Palästinenser aus humanitären Gründen temporär nach Ägypten kommen zu lassen, sondern darum, dass sie dann möglicherweise nicht mehr zurückdürfen und permanent im Nordsinai angesiedelt werden müssten. Der ägyptische Präsident al-Sisi warnte vor ein paar Tagen bei einer Rede vor Kadetten in einer Militärakademie sogar vor einer möglichen „Liquidierung der Palästinenserfrage“.
„Die Drohung, den Gazastreifen von seinen Menschen zu räumen und die Palästinenser von ihrem Land zu vertreiben, ist nicht neu“, sagte die bekannte ägyptische Moderatorin Lamis al-Hadidi in ihrer Sendung „Das letzte Wort“ im vom Sicherheitsapparat kontrollierten Fernsehsender ON-TV. Sie erinnerte an Szenarien, die seit Jahrzehnten in Israel vor allem unter den radikalen Siedlern diskutiert werden, die Palästinenser des Westjordanlandes nach Jordanien zu vertreiben. Ähnliches könnte nun den Palästinensern im Gazastreifen drohen. „Ihr Israelis vertreibt die Palästinenser von überall und fordert sie auf, ihre Heimat zu verlassen. Ihr belagert sie im Gazastreifen von allen Seiten, bis vor ihnen nichts anderes liegt als die ägyptische Grenze“, schlussfolgerte sie.
Der Grenzübergangs in Rafah ist auch das Thema in ägyptisch-amerikanischen Gesprächen. US-Präsident Joe Biden und al-Sisi waren bereits am Montag in telefonischem Kontakt, um „die sich verschlechternde humanitäre Krise in Gaza zu lindern, in Koordination mit der UNO, der palästinensischen Selbstverwaltungsbehörde, Jordanien, Israel und anderen regionalen Partnern“. Im Anschluss an seine heutige Reise nach Israel wird Biden auch in die jordanische Hauptstadt Amman reisen, um dort den jordanischen König Abdullah, den ägyptischen Präsidenten al-Sisi und Palästinenserpräsident Mahmud Abbas zu treffen. Einer der zentralen Punkte dieser Gespräche wird die Öffnung des Grenzüberganges in Rafah sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Abschluss G20-Gipfel in Brasilien
Der Westen hat nicht mehr so viel zu melden
CDU-Politiker Marco Wanderwitz
Schmerzhafter Abgang eines Standhaften