Housing First-Bilanz in Bremen: Auch wer spuckt, darf wohnen
Bei Housing First bekommen Wohnungslose, die aus allen Hilfesystemen herausfallen, eine Wohnung gestellt. Ein Pilot-Projekt in Bremen zieht Bilanz.
Housing First ist ein großes Versprechen. Der Grundgedanke des aus New York stammenden Konzeptes lässt sich umschreiben mit „zuerst eine Wohnung“: Bevor man alle anderen Probleme von Obdachlosen angeht, löst man die zentrale Frage des Obdachs. Das Wohnen gilt als Menschenrecht, der Wohnraum wird bedingungslos gewährt, niemand muss vorher bestimmte Ziele erreichen.
„Obdachlos, neun Jahre unter der Brücke geschlafen. Ich bin froh, dass dann dieses Housing First da war! Ich hatte immer in Heimen gewohnt oder bei Pflegeeltern und so, aber noch nie eine richtig alleine Wohnung.“ (Teilnehmer*in von Housing First in Bremen).
Im „Nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit“ der Bundesregierung aus diesem Frühjahr, der das ehrgeizige Ziel verfolgt, Obdachlosigkeit bis 2030 abzuschaffen, nimmt Housing First einen wichtigen Platz ein. Dabei kam die Idee erst vor wenigen Jahren vorsichtig in Deutschland an: Klein zunächst wurde sie hierzulande umgesetzt, in einzelnen Städten, für jeweils wenige Obdachlose. Fünf Projekte gab es bis 2019 – mittlerweile sind es um die 50.
Seit 2022 gibt es in Bremen ein Housing-First-Modellprojekt. 2025, so der Plan, soll das Konzept verstetigt werden. Der ausführliche Evaluationsbericht eines Bremer Forschungsinstituts liegt seit Ende September vor, die Zitate in diesem Text sind diesem Bericht entnommen.
Wie muss Housing First ausgestattet werden, damit es funktioniert? Was darf man erwarten, wo liegen Grenzen? Am Bremer Beispiel kann man sehen, was geht und was nicht.
Einfach geht anders
Mit Housing First wird vieles besser, aber: Einfach geht anders. Denn es liegt ganz wesentlich an der Zielgruppe: Langzeitobdachlose mit „komplexen Problemlagen“, wie es im Konzept heißt. Menschen also mit psychischen Problemen oder mit einer Sucht, die aus anderen Hilfesystemen herausgefallen sind.
Wer Termine nicht einhält, der ist genau der Richtige. Wer Hausverbot hat in der Notunterkunft, an den wendet sich Housing First. Und wer im Hausflur seine Nachbar*innen anspuckt, auch der oder die hat sich damit noch einmal nachträglich für die Teilnahme an Housing First qualifiziert.
„Die Kollegen von Housing First sind oft zu den Platten der Leute gekommen und haben da das Erstgespräch, Zweitgespräch gemacht. Ich fands ’ne totale Bereicherung […], weil einfach viele Menschen, die Notunterkünfte nicht wahrnehmen oder nicht wahrnehmen können, ihre Nische bei Housing First finden. (Straßensozialarbeit der Inneren Mission Bremen)
Es ist nicht ganz leicht, diese Menschen zu treffen, die eine Wohnung beziehen sollen: Ja, viele haben Handys – aber vielen Handys fehlt der Strom zum Aufladen. Ja, man kann sich vorab verabreden – aber Sucht und psychische Erkrankungen machen es schwierig, Termine einzuhalten.
Die Wohnungen, in die sie einziehen, sind über die ganze Stadt verteilt, mit Quadratmeter-Preisen zwischen knapp sieben und stolzen 23 Euro – die hochpreisigen allerdings sind selten. Durchschnittlich zweieinhalb Monate mussten Teilnehmende bis zum Einzug warten. Dabei nahmen mehrere nicht die erste Wohnung an. Ein Teilnehmer lehnte fünf Angebote ab, bis etwas Passendes gefunden werden konnte. Wohnraum gab es von Anfang an genug: Vonovia und die kommunale Brebau boten ausreichend Wohnungen an und zeigten sich insgesamt überaus zufrieden mit dem Projektverlauf.
Rundum-Sorglos-Programm für Vermieter
Kein Wunder: Housing First in Bremen bietet für Vermieter ein Rundum-Sorglos-Programm an. Drei Jahre lang bekommen sie die Garantie, dass für Schäden in der Wohnung zu 100 Prozent der Staat aufkommt. Das gibt es für andere Mieter*innen nicht.
Teilnehmender am Bremer Housing-First-Projekt
Und dass sie schwierige Menschen sein können, diese Mieter*innen, nun ja: Auch das kann bei anderen Mieter*innen nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Andere werden aber nicht sozialarbeiterisch begleitet.
Und die Begleitung ist intensiv. Denn: Eine Wohnung beziehen, das ist das eine. Doch dann kommt das Wohnen.
„So im Moment ist es manchmal nachts auch manchmal so, dass ich manchmal ein bisschen Angst habe, wenn so alles komplett leise ist […] Das war am Anfang immer so ein Problem. Die ersten Monate oder nur Wochen. Da hab ich mich [in der Wohnung] wirklich nur fertig gemacht, hab n paar Stunden geschlafen und war dann wieder draußen.“
Zum Winter hin bekommen sie wieder besonders viel Aufmerksamkeit: die Menschen, die in Deutschland auf der Straße leben. Es gibt Spendensammlungen, Weihnachtsspeisungen werden geplant und erste Notunterkünfte melden Überfüllung.
Etwa 439.465 Personen waren Anfang 2024 wegen Wohnungslosigkeit „untergebracht“ – bei den meisten von ihnen handelt es sich nicht um Menschen, die zuvor auf der Straße gelebt haben, sondern um Geflüchtete. Allein Ukrainer*innen machten 31 Prozent aus.
Die Zahl der tatsächlich Obdachlosen ist schwerer zu bestimmen: Auf der Straße gibt es keine Meldepflicht. Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe gehen von 50.000 Menschen aus.
Neue Notunterkünfte können das Problem nicht beseitigen, es braucht eine nachhaltige Lösung. Der „Nationale Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit“ setzt das ehrgeizige Ziel, bis 2030 Obdachlosigkeit abzuschaffen.
Ein wichtiger Baustein dafür ist Housing First. In Bremen läuft ein Pilotprojekt seit 2022, 33 Obdachlosen konnte eine Wohnung vermittelt werden. Ende September erschien der Evaluationsbericht des Projekts, ab dem kommenden Jahr soll es regulär finanziert werden.
„Nicht wohnfähig“ ist so ein Urteil über Menschen, das Housing First abschaffen möchte. Dass man Wohnen erst lernen muss in betreuten Unterkünften, dass man sich „hocharbeiten“ muss von Notunterkunft über Mehrbettzimmer und Wohngruppen, das ist das alte Denken.
Den Blick öffnen
Und dennoch, auch das gehört zum ganzen Bild: Eine deutliche Verbesserung fühlen die Teilnehmer laut Befragung nur in einem Punkt ganz schnell: Fast alle bewerten ihr Sicherheitsgefühl besser und ihre Schlafsituation. In anderen Bereichen sehen sie ihr Leben schlechter als zuvor: Ihre Ausbildungssituation zum Beispiel oder ihren Umgang mit Alkohol. Die eigene Wohnung ermöglicht es, den Blick überhaupt zu öffnen für diese Themen, erklären die Autoren der Studie. Die Erwartungen an sich selbst steigen.
Bei manchen, auch das gehört zur Realität, verschärfen sich Probleme. So kann es sein, dass psychische Probleme auf der Straße unterdrückt wurden – und plötzlich Platz bekommen. Andere fallen in Einsamkeit. Vor allem, wenn sie sich bewusst von alten Szenebindungen gelöst haben.
„Ende November habe ich sie im Bahnhof beim Betteln [gesehen] und angesprochen. Sie sah enorm kaputt und krank aus. Auf Ansprache hat sie nicht reagiert, der Druck nach Geldeinnahme war stärker.“ (Teammitglied in der Verlaufsdokumentation)
Alte Probleme sind nicht verschwunden, nur weil es eine eigene Wohnung gibt. Für viele Menschen mit Suchtproblematik reicht auch in der eigenen Wohnung das Geld vom Amt nicht aus. Manche Teilnehmer*innen, heißt es in der Projektevaluation, „finanzierten ihren Lebensunterhalt vor Projektaufnahme auch von Betteln, Flaschensammeln, Prostitution oder Diebstahl und setzten dies auch nach Bezug der Wohnung fort“.
Die negativen Töne dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es ein großer Teil der Teilnehmenden genießt, eine eigene Wohnung zu haben. Mehrere Teilnehmende nahmen Hobbys auf, fingen an zu nähen, kümmerten sich um ihre Balkonpflanzen, planten Urlaube; einer, so heißt es in der Studie, „schrieb regelmäßig Leserbriefe an lokale und überregionale Medien.“
Eindeutige Erfolge
Wenn man Housing First von zu großen Erwartungen entschlackt, dann bleibt die vielleicht wichtigste Frage: Können die Menschen ihre Wohnung behalten – oder landen sie wieder auf der Straße? Housing First hat hier eindeutige Erfolge vorzuweisen – auch in Bremen. 33 Personen sind über das Projekt bis Ende 2023 in eigene Wohnungen gezogen.
Schwierigkeiten gab es einige: 13 Beschwerden von Nachbar*innen über Geruchsbelästigung, über lautes Schlagzeugspiel, über heftig ausgetragene Konflikte, den Verdacht auf Drogenhandel. Schließlich gab es auch Handgreiflichkeiten im Hausflur, Nachbar*innen wurden angespuckt.
Die meisten Konflikte konnten gelöst werden. Zwei Personen bekamen zwar eine Räumungsklage – doch für sie wurden neue Wohnungen gefunden. Nur eine Frau ist völlig aus dem Projekt herausgefallen – aggressiv sei sie gewesen, verweigerte eine Therapie. Eigentlich genau die Zielgruppe des Projekts.
„Gut. Manchmal wird mir das sogar ein bisschen zu viel. Oh, denkste, der schon wieder. Nein, das war gut. Sehr gut. Ich kann nichts anderes sagen.“ (Interview mit Teilnehmenden)
Ohne Hilfe geht es nicht. Rund um den Einzug ist sie am intensivsten, danach wird es weniger. In Bremen hat sich die Praxis herausgebildet, dass zwei Wochen ohne Kontakt ganz akzeptabel sind. Spätestens dann aber versucht das Team, doch Kontakt aufzunehmen: Es wird angerufen und an der Haustür geklingelt, Freunde und Familienangehörige werden kontaktiert, Suppenküchen oder Obdachlosentreffpunkte abgegrast, Nachrichten hinterlassen. Viele nutzen die alten Strukturen und Netzwerke noch, sie sehen sich als „Obdachlose in Wohnung“.
An der Grenze des Konzepts
Das Team in Bremen bewegt sich damit an der Grenze des Konzeptes: Schließlich soll es nie einen Zwang geben, Hilfe anzunehmen. Den Leuten hinterherzulaufen, die nicht gefunden werden wollen – ist das noch Housing First?
In etwa jedem vierten Fall, heißt es in der Studie, kam es zwischenzeitlich oder dauerhaft zu Kontaktabbrüchen – und die gingen meist mit „erheblichen gesundheitlichen, psychischen und suchtbedingten Verschlechterungen“ einher.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Ein ungelöster Konflikt liegt in der Verweildauer. Ende 2023 drängte die Bremer Sozialbehörde, Teilnehmer*innen grundsätzlich nach zwei Jahren aus dem Projekt zu entlassen, damit neue aufgenommen werden können. Das Konzept sieht jedoch „Hilfe, so lange wie nötig“ vor. Für viele war nach zwei Jahren noch nicht deutlich, ob sie es alleine schaffen würden.
Die feste Entlassungszeit ist mittlerweile vom Tisch. Druck gibt es trotzdem: Jedes Jahr sollen 15 neue Menschen mit dem Projekt in die eigene Wohnung gebracht werden; die Zahl der Mitarbeiter*innen wächst aber nicht weiter.
Zehn Leute hat man mittlerweile aus dem „aktiven Status“ entlassen. „Sie können Hilfe bei uns bekommen, wenn es mal einen Brief gibt, den sie nicht verstehen – aber wir müssen uns nicht mehr jede Woche sehen“, erklärt Housing-First-Geschäftsführerin Svenja Böning.
Mit einer Wohnung wird nicht alles gut. Aber eine Wohnung ist eine Wohnung. Und das ist viel besser als keine Wohnung.
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