Horrorfilm „Cuckoo“ mit Hunter Schafer: Schrecken vor Bergpanorama
Mit seinem zweiten Spielfilm beweist Tilman Singer ein enormes Gespür für sinistre Stimmungen. „Cuckoo“ ist ein Horrorfilm für die Sommersaison.
Etwas ist faul im Freistaat Bayern. Dieses vage Gefühl dringt schon ins Bewusstsein der 17-jährigen Gretchen (Hunter Schafer) vor, ehe sie das sonderbare Resort „Alpschatten“ überhaupt richtig betreten hat. Es sieht so aus, als folge ihr ein Schatten auf die Toiletten der Anlage, stille Schritte nähern sich ihrer Kabine. Schließlich rüttelt etwas an der Tür und scheint doch im nächsten Moment verschwunden.
Sowieso wirkt die Szenerie seltsam antiquiert, wie ein letzter bewohnter Außenposten der Zivilisation, eingeschlossen von finster in den Himmel hinaufragenden Tannen und endlosen sattgrünen Weiten.
„Cuckoo“. Regie: Tilman Singer. Mit Hunter Schafer, Dan Stevens u. a. Deutschland/USA 2024, 102 Min.
Beunruhigend ist auch das Verhalten von Herrn König (Dan Stevens), der Gretchens Verwandtschaft, kaum ist der Kombi ihrer Familie auf dem Parkplatz vor beklemmendem Bergpanorama eingebogen, in Empfang nimmt. Das Verhältnis ihres Vaters Luis (Marton Csókás) und ihrer missliebigen Stiefmutter Beth (Jessica Henwig) zu ihm, dem Eigentümer der Ferieneinrichtung, wirkt komisch vertraut.
Geradezu gruselig wiederum seine Begeisterung für ihre jüngere Halbschwester Alma (Mila Lieu), die zwar hören kann, aber nicht spricht. Und Gretchen, ohnehin nur widerwillig mitgereist, würde am liebsten sofort wieder in ihre US-amerikanische Heimat zurückkehren.
Undurchdringlich bedrohlich
In „Cuckoo“ ist die dichte Atmosphäre des undurchdringlich Bedrohlichen unmittelbar da – und mit ihr die enorme Neugier darauf, was sich wohl dahinter verbirgt. Welche grausamen Geschehnisse mögen sich hinter den Gemäuern ereignen? Was sind die Geheimnisse, die in Gretchens eigenartiger Familie schwelen? Und wodurch wurde sie gerade an diesen Ort verschlagen, was verbindet sie mit ihm? Mannigfaltige Möglichkeiten an spannenden Pfaden, die der zweite Spielfilm von Tilman Singer („Luz“) einschlagen könnte, tun sich auf.
Dass der deutschen Filmemacher den zentralen Schauplatz des Films als einen Ort des Ewiggestrigen inszeniert, an dem beige Wählscheibentelefone und dunkle Holzvertäfelungen das Bild prägen, deutet auf ein Spiel mit dem Schrecken längst überkommen geglaubter gesellschaftlicher Überzeugungen hin und lässt etwa eine Thematisierung von wiedererstarkenden erzkonservativen Werten vermuten.
Umso mehr, als dass Gretchen mit ihrem androgynen Auftreten als aufregender Kontrast zu ihrer neuen Umgebung gezeichnet wird und – mit modernen „Noise-Cancelling“-Kopfhörern, Bassgitarre und Smartphone ausgestattet – anders als diese klar in der Gegenwart verortet wird.
Oder weist die Vogelart, die dem Film seinen Titel verleiht, vielmehr auf einen Horror hin, wie er Familiengefilden vorbehalten ist? Schließlich fühlt sich Gretchen in der neuen Konstellation zutiefst isoliert, ist ähnlich fremd wie der Nachwuchs des Kuckucks im fremden Nest. Immer wieder wählt sie daher die Nummer ihrer leiblichen Mutter, nur um auf ihrem Anrufbeantworter zumindest für einen kurzen Moment deren Stimme zu hören, sich nach dem Signalton ihre Sorgen von der Seele zu reden und, im weiteren Verlauf des Plots, ihre wachsende Panik in den Äther zu plärren.
Wohl wissend, dass niemand ihre Klage vernehmen wird, denn ihre Mutter, das wird dem Zuschauer erst schmerzlich spät klar, ist längst tot.
Ein wirkliches Genrevergnügen
Zumindest solange noch alles offen scheint, ist „Cuckoo“ ein geradezu grandioses Genrevergnügen. Vor allem, weil Tilman Singer ein besonderes Gespür für sinistre Stimmungen und ihre stilsichere Inszenierung beweist. So sieht sich Gretchen, die bald einen Aushilfsjob an der Rezeption antritt, um Geld für ihre Flucht aufzutreiben, immer wieder in repetitiven Zeitschleifen gefangen.
Sobald ein eigentümlicher Schreigesang ertönt, wiederholt sich mehrere Male, was sich soeben ereignete. Unregelmäßig pulsierende Halsschlagadern sind zu sehen, im rasenden Stillstand der Zeit zittert, vibriert und flattert das Bild, ehe das Spektakel genauso plötzlich endet, wie es begann.
Die schrillen Geräusche scheinen von einer ominösen Frau zu stammen, die Gretchen wohl schon von Anfang an auf den Fersen ist und ihr eines Nachts erneut folgt, als sie mit dem Fahrrad auf dem Weg nach Hause ist. Zunächst flackert nur ihr Schatten im wechselnden Licht der Straßenlaternen über den Asphalt, bevor die blutende Gestalt mit ihren roten Augen vollständig sichtbar wird.
Paul Faltz’ lauernde Kamera bannt immer wieder derart denkwürdige Kompositionen, die selbstbewusst zwischen Schrecken und skurrilem Pulp changieren auf analogen 35-mm-Film. Zusammen mit den mal markerschütternd schrillen, dann wieder lässig schleppenden Klangkompositionen von Simon Waskow amalgieren sie zu einer der stylishsten Horrorerfahrungen der vergangenen Jahre.
Mühelos wirkende Coolness
Auch Hunter Schafers („Euphoria“) mühelos wirkende Coolness als toughes „Final Girl“, das sich samt Springmesser, Kopfverband und Fliegerjacke bald selbst auf die mühsame Suche nach Antworten begibt, trägt bedeutend zum kultigen Appeal des Films bei.
Dass „Cuckoo“ lange im Ungefähren bleibt, mit Andeutungen spielt und das wahre Wesen des Grauens erst ganz am Ende enthüllt, erweist sich letztlich als ein großer Glücksfall. Denn die bestechenden Bildwelten und die Denkräume, die durch vorher insinuierte Interpretationen eröffnet werden, bleiben das eigentliche Ereignis eines Filmes, dessen abstruse Auflösung am Ende enttäuscht.
Von Frauen, die zur Brutstätte für bedrohte Vogelarten werden, ist die Rede, und von seltsamen Mischwesen namens „Homo Cuculidae“, die daraus erwachsen. Was es mit ihnen auf sich hat, wie das alles funktioniert und vieles Weitere bleibt ebenso nebulös wie die Motive hinter Herrn Königs offenbar überambitioniertem ornithologischen Interesse. Auf Handlungsebene versucht sich der Film allenfalls an recht vogeligem Heimathorror.
Damit erinnert der Film stark an den erst kürzlich im Kino gestarteten, von einer riesigen Medienkampagne begleiteten „Longlegs“ von Oz Perkins. Beide Werke sind mit ihrer hohen ästhetischen Qualität dem für seine künstlerisch anspruchsvollen Arthouse Horror zuzurechnen.
Anders als noch jene Vertreter, die diese Strömung vor wenigen Jahren neu belebten – wie etwa „Midsommar“ von Ari Aster, „Mother!“ von Darren Aronofsky oder „Get Out“ von Jordan Peele – bemühen sie sich allerdings nicht um einen tieferen Aussagegehalt, haben keine gesellschaftskritischen Ambitionen.
Die Antwort darauf, ob das Genre denn nun aufregender ist, wenn es sich für das Schauderhafte hinter den schönen Fassaden interessiert oder wenn es sich damit begnügt, selbst nur schauderhaft-schöne Fassade zu sein, steckt schon in der Frage selbst. Die derzeitige Bedeutung des Horrorfilms hat viel mit seinem wiederentdeckten subversiven Potenzial zu tun. Bleibt zu hoffen, dass er sich nicht mit Eleganz sogleich wieder zurück in die Irrelevanz befördert.
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