Holocaust-Gedenktag: „Ich bin aus einem badischen Dorf“

Sie hat Theresienstadt überlebt: Inge Auerbacher bringt am Holocaust-Gedenktag den Bundestag zum Nachdenken über Verantwortung.

Inge Auerbacher am Mikrofon

Die Holocaust-Überlebende Inge Auerbacher spricht im Bundestag Foto: Michele Tantussi

BERLIN taz | Es kommt nicht so häufig vor, dass Reden im Bundestag so persönlich ausfallen wie an diesem Vormittag. Aber jetzt wird um 10 Uhr in einer Feierstunde der Holocaust-Opfer gedacht. Heute vor 77 Jahren wurde das Vernichtungslager Auschwitz von der Roten Armee befreit.

Der Bundestag hat die 87-Jährige Inge Auerbacher eingeladen. Sie ist aus New York angereist, sie ist seit Jahrzehnten US-Amerikanerin, aber sie spricht in perfektem Deutsch: „Wer bin ich? Ich bin ein jüdisches Mädchen aus dem badischen Dorf Kippenheim“, so beginnt Auerbacher ihre Rede. Sie sei das letzte jüdische Kind gewesen, das dort geboren wurde. 1934 war das. Und dann erzählt Inge Auerbacher ihre Geschichte.

Im Plenum ist es still

Neben den Abgeordneten haben sich im Plenum die Spitzen des Staates versammelt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat zusammen mit Kanzler Olaf Scholz Inge Auerbacher zum Rednerpult gebracht. Der Bundesratspräsident ist gekommen, ebenso wie der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, die Minister sowieso. Und natürlich auch die Fraktion der AfD, von der aber nichts zu hören sein wird.

Inge Auerbachers Geschichte beginnt lange vor der Machtübernahme der Nazis, im Jahr 1914. Sie erinnert daran, dass ihr Vater im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft hat, verwundet und mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet wurde. Ebenso vier Brüder der Mutter, von denen zwei nicht aus dem Krieg zurückgekehrt seien. Sie weiß um das gute Zusammenleben mit den Christen in Kippenheim, damals, in den ersten Jahren der NS-Herrschaft, als sie selbst noch ein Baby war. Sie zeigt mit ihren Worten auf, wie integriert und vaterlandsverliebt die deutschen Juden doch in ihrem Land gewesen sind.

Es ist im Plenum sehr still. Der Holocaust-Gedenktag ist im bundesdeutschen Parlament seit seiner Einführung 1996 zu einem Ritual geworden, in dem in jedem Jahr eine Person eingeladen wird, die mehr vom Hass auf die Juden, Sinti und Roma versteht als die Abgeordneten. Die Feierstunde ist auch eine Selbstvergewisserung, die Zeit der Judenverfolgung niemals zu vergessen.

Und Inge Auerbacher spricht vom Hass und seinen Folgen: Wie die Scheiben ihres Elternhauses eingeworfen wurden am 10. November 1938 und ein Stein sie nur knapp verfehlte. Wie der Vater das Haus verkaufen musste und sie umziehen mussten, zuerst zu den Großeltern, dann in ein „Judenhaus“ in Göppingen.

Wie ihr der Besuch einer öffentlichen Schule verboten war. Sie hat die kleinen Zeichen der Solidarität mit den Verfolgten nicht vergessen: die Bauern, die der Familie Essen zusteckten, die Frau im Zug nach Stuttgart, die eine Tüte mit Brötchen absichtsvoll neben ihr liegen ließ. Bis die Familie am 22. August 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde – das jüdische Getto in der besetzten Tschechoslowakei, das einem Konzentrationslager glich.

Die Puppe fest im Arm

Inge Auerbacher hat diese Geschichte in den letzten Jahren sehr häufig erzählt, vor Schulklassen und bei anderen Gelegenheiten, in Deutschland und in den USA. Sie hat Bücher geschrieben. Sie ist zu einer Reisenden in Sachen ihrer eigenen Erinnerung geworden. Sie ist 87 Jahre alt, geht ein wenig krumm und macht immer weiter.

„Ich hielt meine Puppe fest im Arm“, erinnert sie sich an die Ankunft als Siebenjährige in Theresienstadt. Wachleute mit Peitschen hätten gebrüllt, ringsherum seien hohe Mauern, Holzzäune und Stacheldraht gewesen. Fast drei Jahre hat Inge Auerbacher in dem Getto verbracht, bis sie zehn wurde. Dazwischen waren Mord, Deportationen, Krankheiten und Hunger, immer wieder Hunger. Als einziges Kinder der aus Stuttgart Deportierten hat sie die Zeit bis zur Befreiung am 8. Mai 1945 überlebt.

Sie ist danach, schon in den USA, schwer an Tuberkulose erkrankt, einer Spätfolge von Theresienstadt. Sie hat deswegen nicht heiraten und keine Kinder bekommen können, sagt sie im Deutschen Bundestag. Aber auch: „Ich bin glücklich. Und die Kinder der Welt sind meine.“

Zum Schluss hebt sie an: „Die Vergangenheit darf nie vergessen werden. Zusammen wollen wir beten für Einigkeit auf Erden.“ Der Applaus ist lang und anhaltend. Danach redet der Präsident der Knesset, Mickey Levy, der beim Sprechen des Kaddisch, des jüdischen Totengebets, zu weinen beginnt. Anschließend ertönt Musik.

Um 11.30 Uhr geht es im Bundestag mit der Routine weiter: Schlussberatung und Verabschiedung des Nachtragshaushalts 2021. Es folgt eine Debatte zum Ukrainekonflikt.

Inge Auerbacher hat am Mittag noch ein Gespräch mit Steinmeier und Levy. Bald danach will sie sich aufmachen. Es geht nicht zurück ins heimatliche New York, sondern ins Badische, nach Kippenheim. Zum Reden über das, was geschehen ist und nie wieder geschehen darf.

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