Holocaust-Gedenktag in Israel: Retraumatisiert in der Isolation
Am Dienstag findet in Israel der Holocaust-Gedenktag statt, der sogenannte YomHaShoah. In diesem Jahr ist alles anders.
„Was wir wollen, ist, dass die Überlebenden auch am Holocaust-Gedenktag das Gefühl haben, in dieser Situation nicht allein zu sein“, sagt Martin Auerbach, Psychiater und Psychotherapeut und klinischer Leiter von Amcha Israel, einer Organisation, die etwa 16.000 Schoah-Überlebenden psychosoziale Unterstützung bietet.
Am Dienstag findet in Israel der diesjährige Holocaust-Gedenktag statt, der sogenannte YomHaShoah.
In den letzten Jahren haben sich immer mehr interaktive Erinnerungsiniativen jenseits der offiziellen Gedenkveranstaltungen etabliert. In der Graswurzelinitiative Zikaron BaSalon – Erinnerung im Wohnzimmer – kommen Überlebende und spätere Generationen in einer persönlicheren Atmosphäre miteinander ins Gespräch. In den Sozialclubs von Amcha können sich Überlebende miteinander austauschen und sich gegenseitig unterstützen. „Normalerweise kommen die Überlebenden an den Tagen vor dem Gedenktag besonders intensiv zusammen“, so Auerbach.
Die Unsicherheit reißt alte Wunden auf
Doch in diesem Jahr ist alles anders. Nicht nur die großen Gedenkveranstaltungen sind wegen der Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie in diesem Jahr abgesagt. Auch die Sozialclubs können nicht stattfinden. Zwar wurden die Ausgangsbeschränkungen in Israel am vergangenen Sonntag etwas gelockert, doch dies trifft nicht auf die hochbetagten Überlebenden zu, die weiter aufgefordert sind, das Haus nicht zu verlassen. Auerbach berichtet, dass bei vielen der Überlebenden durch die Isolation und die allgemein herrschende Unsicherheit alte Wunden wieder aufgerissen werden: „Die Überlebenden waren Kinder oder Jugendliche im Zweiten Weltkrieg. Sie waren im Ghetto, im Konzentrationslager, im Versteck, auf der Flucht“, so Auerbach: „Ihre Traumata waren in erster Linie, dass ihre Welt zerrissen wurde. Das Grundgefühl des Verlassenwerdens ist sehr stark. Durch die Ausgangsbeschränkungen und die Unsicherheit findet bei vielen eine Retraumatisierung statt.“
Amcha hat vor einem Monat mit den ersten Ausgangsbeschränkungen die Arbeit umgestellt. Sie haben eine Telefonhotline eingerichtet. 12 Stunden am Tag können Überlebende dort anrufen. Viele von ihnen bitten um ganz konkrete Unterstützung, um Lebensmittel, Medikamente. Die Sozialclubs hat Amcha auf Zoom-Konferenzen umgestellt, in denen die Überlebenden zusammenkommen können. „Die meisten haben das schnell gelernt“, berichtet Auerbach: „Wenn nicht, schicken wir manchmal Ehrenamtliche vorbei, um ihnen das beizubringen, natürlich mit zwei Metern Abstand und allen Vorsichtsmaßnahmen.“
„Wir umarmen uns aus der Ferne“
Für den diesjährigen Yom HaShoah hat Amcha zu einer breiten Unterstützungsinitiative aufgerufen. Wenn am Morgen des Yom HaShoah in ganz Israel für zwei Minuten die Sirene ertönt und zum Gedenken an die Ermordeten des Holocaust das ganze Land still steht, Busse und Autos auf der Autobahn halten und Fußgänger*innen stehen bleiben, sollen die Israelis von der Straße und von Balkonen aus Schilder in die Höhe halten, so dass Überlebende aus ihren Wohnungen heraus die Plakate sehen können: „Wir erinnern uns aus der Nähe und umarmen aus der Ferne.“ In den sozialen Netzwerken hat die Aktion bereits an Fahrt aufgenommen. Viele laden Fotos hoch, auch die deutschen Botschaftsmitarbeiter*innen haben eine Collage veröffentlicht.
Am vergangenen Montagabend wurde bereits die Gedenkzeremonie in Yad Vashem online übertragen. Die Gedenkstätte hat außerdem eine Vortragsreihe auf Zoom und Facebook gebracht und eine Online-Ausstellung mit dem Titel „Rettung durch Juden, einer für alle“ veröffentlicht, die sich auf das diesjährige Thema – das jüdische Heldentum während des Holocaust – konzentriert.
Auch die jährliche Tradition des Vorlesens der Namen von Opfern wurde an die Corona-Umstände angepasst. Yad Vashem fordert Menschen zur Teilnahme an einer Social-Media-Kampagne auf, indem sie von ihrer Website aus auf die Namen von Holocaust-Opfern zugreifen und selbst eine Aufzeichnung erstellen, in der sie die Namen der Opfer vorlesen. Das Museum plant, eine Zusammenstellung hochgeladener Videos zu erstellen.
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