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Holocaust-GedenkenEs braucht mehr als Floskeln

Kommentar von Gabriele Lesser

Das Versprechen „Nie wieder“ ist 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz brüchig geworden. Menschenrechte sind auch in Europa bedroht.

Polens Präsident Duda und Israels Präsident Rivlin bei der Kranzniederlegung in Auschwitz Foto: Agencja Gazeta/reuters

U rsprünglich war das „Nie wieder“ eine Selbstverpflichtung: „Nie wieder werden wir gleichgültig zusehen, wenn Minderheiten ausgegrenzt, beleidigt und ihrer Menschenrechte beraubt werden.“ Das „Nie wieder“ sollte weitere Völkermorde nach dem Holocaust verhindern. Eine bessere Welt sollte entstehen: Die Vereinten Nationen (UNO) sollten den Weltfrieden bewahren, die entwickelten Demokratien wollten Flüchtlinge nicht mehr vor ihren Grenzen abweisen, so wie sie es vor dem Krieg gegenüber den europäischen Juden getan hatten.

Viele Holocaust-Überlebende wollten in Israel, dem 1948 gegründeten jüdischen Staat, ein neues Leben beginnen. Deutsche und Österreicher wollten verstehen – erst widerwillig, dann immer drängender -, wie so viele „normale Menschen“ zu verrohten Sadisten und gefühlskalten Mördern hatten werden können.

Doch die Bilanz des „Nie wieder“ fällt nach 75 Jahren niederschmetternd aus. Völkermorde gab und gibt es auch nach Auschwitz. Trotz des Versprechens schauen die meisten Menschen weg, wollen das Leid der Verfolgten nicht sehen. Egal ob es Syrer sind, Kongolesen, Rohingya in Myanmar oder Uiguren in der Volksrepublik China. Schlimmer noch: Fast überall ziehen Politiker neue Mauern und Zäune hoch, um die Flüchtlinge von den eigenen Grenzen fernzuhalten. „Wir können schließlich nicht alle retten“, heißt es dann.

Die Vereinten Nationen waren unfähig, ein weltumspannendes System der Friedenssicherung auszubilden und den Schutz der Menschenrechte überall zu garantieren. Aber auch die Europäische Union, die nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurde, um den Frieden zu bewahren, bekommt immer mehr Risse. Fast überall in den Mitgliedstaaten kommen Nationalismus, Rassismus und Demokratieverachtung wieder an die Oberfläche. „Die Wahrheit über den Holocaust darf nicht sterben“, sagte Polens Präsident Andrzej Duda auf der Gedenkfeier zur Befreiung des nazideutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Doch zur Wahrheit von heute gehört auch: Die Demokratie und ihre Werte müssen immer wieder neu verteidigt werden – damit sich Verbrechen aus Hass nicht wiederholen.

In Deutschland haben Hetze und allgemeine Verrohung der Umgangsformen so zugenommen, dass sich Juden immer öfter fragen, ob sie hier noch sicher leben können. Lokalpolitiker geben ihr politisches Engagement auf, weil der Staat sie nicht vor Morddrohungen und Attentätern – wie in Kassel – schützen kann. Die Erosion des Rechtsstaats ist mit Händen zu greifen. In Polen und Ungarn zerstören Politiker sogar ganz bewusst die Grundlagen der demokratischen Grundordnung und hetzen offen gegen einzelne Gruppen wie Richter, Ausländer oder Homosexuelle. Wenn in diesen Tagen das „Nie wieder“ erneut in aller Munde ist, sollte es mehr sein als nur eine Erinnerungsfloskel. Wir sollten uns erneut darüber klar werden, was es für jeden von bedeutet und was es uns abverlangt.

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Auslandskorrespondentin Polen
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5 Kommentare

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  • Nach der Machtergreifung werden als erstes die deutschen Politiker der anderen Parteien abgeholt und mitgenommen. Und dazu braucht es genau diese Gesetze zum Schutz gegen Aufstachelung zum Haß, Volksverhetzung, Schmähung, Diffamierung, emotionale Ablehnung, Aufstachelung, Beschimpfung, Böswilligkeit, Verächtlichmachung, Verleumdung von Volk und Staat, Schmähungen, Diffamierungen und Diskriminierungen sowie deren Rechtfertigung.

  • In Deutschland muss Antisemitismus, Rassismus, Homophobie und alle sonstigen menschenfeindlichen Phobien strafrechtlich und konsequent verfolgt werden, und zwar je nach Schweregrad mit Geldstrafen, Entschädigungszahlungen an die Opfer und Knast. Die Realität sieht aber leider so aus, dass Täter - wenn überhaupt - milde Bewährungsstrafen bekommen und dass z.B. eine Straftat nicht als antisemitisch, sondern als politisch motiviert (Protest gegen Israel) eingestuft wird.

  • Ja Frau Lesser ! Sie sprechen mir aus dem Herzen ! ..`da ist irgendwas nicht richtig´!.. die Grausamkeiten des Holocaust.. und die hässlichen Ideologien , die da zum Holocaust führten... als ein Symbol für ein "NIE WIEDER" .. das wirkt alles etwas abgenutzt... Frau und Mann hat sich daran gewöhnt ? ..auch die gewaltige Menge der Gefallenen Soldaten, die Menge der massakrierten Zivilisten , Frauen, Kinder, Männer, Alte und Junge .. ob im Deutschland des Dritten Reichs , oder in Polen , in der Sowjetunion.. in Europa.. in der Welt.. dies "NIE WIEDER" .. dies "NEIN" zu Mensch/Selbst gemachter Apokalypse.. all die `heiligen Gesichter´im TV.. und deren Bekundungen des "NIE WIEDER".. dies "NIE WIEDER" wirkt irgendwie wie eine art Stillstand vor der Vision der Apokalypse: ..es wird weiterhin militärisch Rüstung produziert , Arbeitsplätze und Wohlstandsideologien.. NATO und sonstwo Militär in der Welt.. als apokalyptische Drohkulisse gegen die "Apokalypse"... GEHTS NOCH ?



    Von den Überlebenden Zeitzeugen des Holocaust , des Zweiten Weltkriegs , lernen.. JA! Fast jede deutsche Familie hat Zeitzeugen des apokalyptischen Grauens.. Konsequenz FRIEDEN ?

  • 7G
    76530 (Profil gelöscht)

    Gerne stimme ich mit der Aussage der Kommentatorin darin überein, dass es mehr als Floskeln, sprich: Sonntagsreden, braucht. Alltagshandlungen sind Indikatoren für die Ernsthaftigkeit wohlfeiler Sprache.

    Der Holocaust ist in der deutschen Geschichte DAS Synonym für kalte Funktionalität und Logistik bei völliger Entmenschlichung der Opfer. Schlimmeres hat es auf deutschem Boden nicht gegeben.

    Daraus die Konsequenz zu ziehen, ein Opferranking zu erstellen und Betroffene in Opfer erster, zweiter und dritter Klasse einzuteilen, setzt diese Funktionalität beeindruckend fort. Manche Opfer geraten nach kurzer Abhandlung im medialen Zirkus in gewollte (?) Vergessenheit.

    Auch wenn Selbstermächtigung das oberste Ziel für Opfer bleibt: der Boden dafür muss erst einmal bereitet werden. Dazu ist es vonnöten, sich bei den Opfern zu entschuldigen - und für die Folgen (auch materiell) aufzukommen (entschulden).

    Der nächste Schritt wäre eine angemessene Aufarbeitung in Schulen und Universitäten. Mein Geschichtsunterricht endete bei Bismarck 1870ff. Ethik und Moral müssten endlich aufgewertet werden.

    Davon sind wir Lichtjahre entfernt. Kein Grund zum Verzagen. Im Gegenteil: Arsch hu!

  • Was Deutschland angeht, würde ich von einer verpassten Chance sprechen. Nach dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft hätten die Akteure schärfer verfolgt und zur Verantwortung gezogen werden müssen. Leider hat man sie kurz danach fast alle für unschuldig erklärt, Polizei und Behörden übernehmen und ihr rechtes, faschistisches Gedankengut in die BRD einbringen lassen.