Historisierung der Hamburger Schule: Zurück an St. Paulis Tresen der 90er

Im ausverkauften Hamburger Club Knust wurde über ein Buch und eine TV-Doku zur Hamburger Schule diskutiert – und auch ein bisschen gefeiert.

Musikerin „Nixe“ (Rebecca Walsh) in der NDR-Doku über die Hamburger Schule

Musikerin „Nixe“ (Rebecca Walsh) in der NDR-Doku „Hamburger Schule – eine Musikszene zwischen Pop und Politik“ Foto: Sven Wettengel/NDR

„Bernadette, du siehst super aus!“, ruft ein Mann aus dem Publikum. Und eine Frau hinterher: „Und du bist so klug!“ Welcome back in den 90ern. Vor der Bühne im pickepackevollen Hamburger Club Knust viele bekannte Gesichter, auf der Bühne sitzen am Freitagabend Bernadette La Hengst, ehemals Sängerin von Die Braut haut ins Auge, Frank Spilker, Sänger und Kopf von Die Sterne, Myriam Brüger, ehemals Pressechefin des Labels L’Age d’Or, Natascha Geier, Autorin der NDR-Doku „Die Hamburger Schule – Musikszene zwischen Pop und Politik“ und Jonas Engelmann, Autor des Buchs „Der Text ist meine Party. Eine Geschichte der Hamburger Schule“.

Während in den sozialen Medien seit Wochen darüber gestritten wird, wer die Deutungshoheit über den Begriff „Hamburger Schule“ hat, sitzen hier drei prominente Ver­tre­te­r*in­nen auf der Bühne, von denen manche glauben, dass sie eine einseitige Geschichte erzählen, und das auch schon in der viel diskutierten TV-Doku von Natascha Geier getan haben. Dabei könnte man sie auch dafür bemitleiden, dass sie hier stellvertretend für eine so vielgesichtige Vergangenheit herhalten müssen. Auch wenn sie dabei sehr fröhlich wirken.

Außer Myriam Brüger, die als Entdeckerin der Band Tocotronic gilt und sich betont zurückhält. Sie würdigt Kristof ­Schreuf, einst Sänger bei Kolossale Jugend: „Der hat nicht nur die Erfindung gemacht, wie man die deutsche Sprache neu singen kann, sondern er hat auch die Hamburger Szene sozial betreut. Das war ein Kümmerer.“

Trauer um Charismatiker Kristof Schreuf

Der Musiker und taz-Autor Kristof Schreuf: im November 2022 plötzlich und viel zu früh gestorben. Der Abend wie auch Buch und Songcompilation stehen unter seinem Songtextzitat „Der Text ist meine Party“. Seine charismatische Gestalt vermisst man am Freitag schwer. „Der hatte immer Bock, die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen“, erinnert sich auch Bassistin Luka Skywalker, die mit ihm in der Band Brüllen gespielt hat, am Rande des Abends. „Wenn Kristof irgendwo aufgetaucht ist, dann war klar, es wird interessant.“ Ob er zu einer Veranstaltung wie dieser gekommen wäre? Manche haben, tatsächlich, abgesagt.

Der Text ist hier jedenfalls nicht die Party. Die Gesprächsrunde bleibt weit hinter dem Unterhaltungswert dessen zurück, was man von den Gesprächen in den 90ern an den Tresen von Sankt-Pauli-Kneipen wie Caspers Ballroom und Heinz Karmers Tanzcafé erinnert oder im Nachhinein imaginiert. Einmal kracht es ein bisschen, als Natascha Geier fragt, warum es so viele tolle Frauen damals gab in der Szene, aber nur so wenige von ihnen auf der Bühne standen. Frank Spilker: „Da musst du die fragen, die sich nicht auf die Bühne getraut haben.“ Bernadette La Hengst: „Nee, da musst du die Strukturen befragen, Frank.“ Lauter Jubel und Pfiffe.

Musiker Frank Spilker in einer Hamburger Bar, Szene aus der NDR-Doku "Hamburger Schule – eine Musikszene zwischen Pop und Politik"

Frank Spilker von Die Sterne in der NDR-Doku „Hamburger Schule – eine Musikszene zwischen Pop und Politik“ Foto: Sven Wettengel/NDR

Bernadette: „Ich wollte Frank gerade nicht runtermachen. Ich glaube, dass wir lernen müssen, gewaltfreier miteinander zu kommunizieren. Dass man nicht sagt: Ich habe einen besseren Punkt als du, deshalb mache ich dich runter. Aber so wurde es in den 1990ern oft gemacht. Und da waren die Männer in den Kneipen Wortführer.“ Herrje, man möchte sich noch einmal zurücktransportieren lassen in jene Zeit, um zu wissen, ob man jubeln oder kotzen würde.

Vermutlich käme es darauf an, auf welche von den paar hundert Gestalten, die man zur Hamburger Schule zählen kann, man träfe, und in welchem Moment. Dass heute darüber gestritten wird, was die Hamburger Schule war und was von ihr bleibt, ist verständlich. Mit Buch, Compilation-Album und Fernsehdoku wird die Vergangenheitsbewältigung jetzt öffentlich. Es werden Dinge ausgesprochen, die offenbar lange gegoren haben. Das aber vor allem im Internet – oder an diesem Abend abseits der Bühne.

Kein Diskursgewitter in der Luft

Es liegt kein Diskursgewitter in der Luft des Knust. Nach der Gesprächsrunde wird musiziert, den Anfang macht die Musikerin Nixe mit einem alten Lied ihrer Band Die Stars: Ihr redet und redet, aber eigentlich wollt ihr nur flachgelegt werden, bringt sie ihre Sicht auf die Hamburger Schule darin sinngemäß auf den Punkt. Auch ein möglicher Blick auf das Ganze.

Was „die Hamburger Schule“ war, wird nie abschließend geklärt werden, und der Streit ums Grundsätzliche gehörte schon immer dazu wie Bier und Zigaretten (jaja, bestimmt gab es auch Nichtraucher und Weintrinkerinnen). So sehr manche den Begriff heute noch zu hassen scheinen: Ohne ihn würde niemand jetzt so ausführlich über all das reden, was zwischen Ende der 80er und den frühen 00er Jahren in Hamburg musikalisch und darüber hinaus passiert ist.

Schade ist, dass das zwar in den Kommentarspalten im Netz leidenschaftlich diskutiert wird, aber weniger am Tresen. Und nicht auf der Bühne des Knust. Und hätte man nicht auch Nachgeborene einladen können, um mal Per­spektiven von heute auf die Bedeutung der Hamburger Schule zu hören? Man bleibt lieber unter sich und in den 1990ern. Welcome back.

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