Historiker über liberales Judentum: „Wandel gab es im Judentum immer“
Es ist die stärkere, aber weniger sichtbare Strömung: Der Historiker Hartmut Bomhoff hat ein Buch über 250 Jahre liberales Judentum verfasst.
taz: Herr Bomhoff, warum erscheint das Buch, dessen Mitherausgeber Sie sind, gerade jetzt?
Hartmut Bomhoff: Es ist ein Versuch, den Beitrag des liberalen Judentums zu 1.700 Jahren jüdischen Lebens in Deutschland zu zeigen. In den Medien ist die Orthodoxie sehr präsent, weil sie sich visuell unterscheidet. Aber eigentlich ist die Orthodoxie weltweit in der Minderheit, während das liberale Judentum die stärkste Strömung ist.
Ist das Buch also eine Pioniertat?
In der Tat wurde dazu – bis auf die „Geschichte der Reformbewegung“ eines Rabbis in den 1920er-Jahren – wenig geschrieben. Denn das Liberale war so selbstverständlich, dass es bis zur Shoah kein Thema war. Nach der Shoah haben sich die Proportionen verschoben, weil die Juden, die hier ansässig wurden, displaced persons aus Osteuropa waren, die meisten traditionell geprägt. Damit verschob sich die Hochburg des liberalen Judentums von Berlin nach London, Nordamerika, auch nach Israel.
Deshalb werden orthodoxe Richtungen auch hierzulande so stark wahrgenommen.
56, Historiker, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Abraham Geiger Kolleg in Potsdam, dem ersten Rabbinerseminar in Deutschland nach der Shoah.
Sie sind sehr lautstark und geben vielen Juden aus russischsprachigen Zuwandererfamilien, die in der einstigen Sowjetunion ohne Religion groß wurden, das Gefühl von Halt und vermeintlicher Authentizität. Die Orthodoxie gibt fertige Antworten auf alle Fragen, und es ist manchmal hilfreich, so ein Gerüst zu haben und nicht das eigene Gewissen befragen zu müssen.
Modern aus Tradition: 250 Jahre liberales Judentum. Hrsg. von Walter Homolka, Heinz-Peter Katlewski und Hartmut Bomhoff. 256 S., 26 Euro
Wie kommen Sie und Ihre Mitherausgeber auf genau 250 Jahre liberales Judentum?
Es gibt kein Gründungsdatum, aber zwei Wendepunkte: 1771 veröffentlichte der jüdische Aufklärer Mordechai Schnaber Levinson die Schrift „Über die Verbindung von Religion und Wissenschaft“. Er unterschied darin zwischen Wahrheit und Glauben – was damals unerhört war. Er schrieb auch, dass Reformen im jüdischen Religionsgesetz denkbar sind. Der zweite Bezugspunkt ist der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn. Er schrieb 1772 über den alten Brauch, jüdische Verstorbene so schnell wie möglich zu beerdigen und riet – im Sinne einer Akkulturation –, diese Praxis zu überdenken: Es sei ein Brauch, kein Gebot, und Bräuche seien zeitgebunden. Er unterschied als erster zwischen Schale und Kern des Judentums, zwischen Bräuchen und Wahrheit und ermöglichte so die spätere Reformbewegung. Auf die Reformer antworteten dann die „Altfrommen“, die die Orthodoxie begründeten.
Stehen die erwähnten Bräuche in der Bibel?
Nein. Sie sind vielleicht im Talmud fixiert – einer Auslegung biblischer Gesetze für den Alltag –, aber in allen jüdischen Lebenswelten unterschiedlich gedeutet worden. Deshalb ist es so wichtig zu begreifen, dass der Wandel stets konstitutiv für das Judentum war. Wenn wir auf 3.000 Jahre jüdische Geschichte zurückblicken – etwa auf die Folgen der Tempelzerstörung im Jahr 70 –, wird klar, dass es immer kultische und soziale Veränderungen gab.
Gibt es junge Beispiele?
Ich porträtiere im Buch die vor 25 Jahren gegründete Union progressiver Juden. Dazu zählt auch Hannovers mit 800 Mitgliedern größte liberale jüdische Gemeinde in Deutschland, aufgebaut von Ingenieurinnen, Ärztinnen, Künstlerinnen aus der früheren Sowjetunion: Sie wollten nicht hinnehmen, dass sie in der Synagoge weniger gleichberechtigt sein sollten als im Alltag.
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