Historiker über den „globalen“ Hitler: „Es war eine Art Hassliebe“
Hitler fürchtete die Amerikaner und Briten, sagt Brendan Simms. Den Bolschewismus hielt er für eine Krankheit, die Hohenzollern waren ihm nützliche Idioten.
taz am wochenende: Herr Simms, Sie schreiben in Ihrem tausendseitigen Werk über Adolf Hitler an einer Stelle (wir befinden uns zeitlich im Schlüsseljahr der Machtergreifung 1933): „Hitler brandmarkte den Kommunismus erneut als Helfershelfer des Kapitalismus. ‚Der Marxismus‘, war auf einem Wahlplakat zu lesen, ‚ist der Schutzengel des Kapitalismus.‘“ Das klingt scheinbar widersinnig, wie ist das in der Nazi-Terminologie zu verstehen: der Marxismus als „Schutzengel des Kapitalismus“?
Brendan Simms: Hitler behauptete bereits in den 1920er Jahren, dass der Hauptfeind der internationale Kapitalismus sei. Dieser versuche alle nationalen Ökonomien zu unterwerfen, wie geschehen bei der Beseitigung von Deutschem Reich und Zarenmonarchie in Russland. Als Instrument dienten dem Kapitalismus Bolschewismus, Sozialismus und weitere Bewegungen, um die nationalen Wirtschaftsräume zu zersetzen. Die geschwächten Nationalökonomien könnten so vom internationalen Kapitalismus übernommen werden. Als Beispiel führte Hitler die Auseinandersetzungen bei der Deutschen Reichsbahn in den 1920er Jahren an.
Also letztlich die üblichen Agenten- und Unterwanderungsthesen?
Die Alliierten und der internationale Kapitalismus hätten dort die sozialistisch-kommunistischen Umtriebe geschürt, um sich so der Reichsbahn zu bemächtigen.
Hitler und die völkischen Großdeutschen befanden sich also in einem Zweifrontenkrieg. Gegen Feinde im Inneren und Äußeren, den verhassten Sozialismus im Osten sowie die liberale Demokratie im Westen?
Allerdings war für Hitler die Front gegen den Westen die wichtigere.
Tatsächlich?
Das ist weniger überraschend, wenn man bedenkt, dass eine Haupterfahrung für Hitler und viele andere Deutsche an der Front des Ersten Weltkrieges die unheimliche Macht des Britischen Empires und der Vereinigten Staaten war. Man nahm sie als die Hauptmächte des internationalen Kapitalismus wahr. Der Bolschewismus war für die Nazis eher eine Krankheit. Wer den Bolschewismus hatte, der ging daran zugrunde. Das schien klar. Die große Gefahr bestand darin, dass Deutschland durch den Bolschewismus so geschwächt würde, dass es hilflos Angelsachsen und internationalen Kapitalismus ausgeliefert wäre. Er sah es so: Ende des Ersten Weltkriegs war das Deutsche Reich 1918 nicht nur an der Front Amerikanern und Westalliierten militärisch unterlegen. Auch im Inneren war das Deutsche Reich durch die sozialistisch-kommunistischen Kräfte unterminiert worden.
Hitler und die Nazis gedachten sich später im Zweiten Weltkrieg des Bolschewismus in einem Nebenwaffengang zu entledigen, um sich dann dem transatlantischen Hauptfeind zuzuwenden?
Der Bolschewismus schien ihnen in den 1920er Jahren eher ein Nebenproblem, eines der Innenpolitik in Deutschland. In Gestalt der bewaffneten Sowjetmacht nahmen sie ihn nicht so ernst. Anders dann ab 1936, zur Zeit des Vierjahresplans. Und später im Zweiten Weltkrieg natürlich. In den 1920er Jahren betrachtete Hitler Russland aber vor allem als Opfer der Sowjets, genauso wie das Deutsche Reich 1918.
War der Krieg um „den Lebensraum“ im Osten vor allem ein rassistischer? Einer, mit dem man die völkischen Massen gegen den slawischen und jüdischen „Untermenschen“ mobilisieren konnte? Und zugleich den Schulterschluss mit den deutschnationalen, kapitalistischen Eliten im Bündnis gegen „die Roten“ praktizieren konnte?
Der Hauptgrund für Hitlers Lebensraumideologie und das expansive Voranschreiten später in den 1930er Jahren war meines Erachtens seine Furcht vor der Überlegenheit des Britischen Empire und der Vereinigten Staaten.
Die Nazis griffen im Osten an, weil sie Angst vor dem Westen hatten – das müssen Sie erklären?
Das Empire und die Vereinigten Staaten schienen Hitler deswegen so stark, weil sie sich so viel Raum genommen hatten. Außerdem waren sie in seinen Augen rassisch gefestigt. Sie waren militärisch unglaublich stark. Im Grunde bewunderte er sie, es war eine Art Hassliebe. Deswegen argumentierte er seit den 1920er Jahren: Nur wenn wir auch über so einen großen Lebensraum mit Bodenschätzen verfügen, können wir unsere Rasse festigen und die Ernährung des deutschen Volkes garantieren.
„Lebensraum“, in der Vorstellung der Inbesitznahme eines wie in Amerika vorgestellten angeblich leeren Kontinents?
Er dachte in dieser Parallele. Die Amerikaner haben den Kontinent erobert und die Indianer ausgerottet oder unterdrückt. Und er meinte: Wir müssen praktisch das Gleiche im Osten tun. Das antislawische Gefühl schwang zwar mit, war aber nicht der auslösende Grund für seine Überlegungen in den 1920er Jahren. Hitler wollte einfach ein zu kolonisierendes Territorium, welches an das Deutsche Reich geografisch angrenzte. Kolonien in Übersee brachten es in seiner Vorstellung nicht. Man sah im Ersten Weltkrieg, wie leicht sie abgeschnitten würden. Ein nahe gelegenes Territorium sollte es sein. Ein schwach regiertes. Eines, das vom Bolschewismus ausgehöhlt war. Er hielt das sowjetisch unterminierte Russland für leichte Beute. Die Ermordung der Juden im Osten war für ihn weniger eine Frage des Lebensraums als eine der ideologischen Kriegsführung gegen diesen sogenannten jüdischen Weltfeind, den er mit dem Weltkapitalismus identifizierte und den er als Partisan praktisch hinter jeder Front agieren sah.
Eine obsessive, rassistische Verschwörungstheorie?
Genau. Juden sollten Agenten des internationalen Kapitalismus wie auch des Bolschewismus sein, in seiner Vorstellung Partisanen, die sich auch gegen seine Okkupationsmacht stellen würden.
Sie rationalisieren die Gründe für Hitlers skrupellose darwinistische Machtpolitik und den Antisemitimus sehr stark?
Hitlers Politik war nicht sehr rational, das kann man wirklich nicht behaupten. Ich würde eher sagen, und das ist jetzt das Wichtige: Sie ist in sich kohärent, wenn man ihre Prämissen für die Analyse akzeptiert. Als Bürger, Mensch oder politisches Wesen darf man sie auf keinen Fall akzeptieren. Aber als Historiker muss ich das, um zu verstehen. Wenn man das tut, ist das Gebäude weitgehend in sich schlüssig. Wenn auch nicht ganz. Es gibt zum Beispiel sehr starke Ungereimtheiten in seinem Verhältnis zu den Angloamerikanern. Wenn Angloamerikaner und Angelsachsen Hand in Hand mit dem internationalen Judentum gehen, das internationale Judentum angeblich ein zersetzendes Element sei, warum werden Briten und Amerikaner dann aber immer stärker? Das könnte man sich ja dann fragen. Diese Spannung wird bei ihm nicht aufgelöst. Aber im Großen und Ganzen sind seine Gedanken schlüssig, aber natürlich nicht rational.
Willkürlich, doch in ihrer Willkürlichkeit auch wieder kohärent?
Ja.
Muss man da nicht aufpassen, dem Irrsinn nicht zu viel Sinn zu verleihen?
Man muss sehr gut aufpassen. Ich sage gleich zu Beginn meines Buchs, dass ich hier versuche, mich in seine Gedankenwelt hineinzuversetzen, ohne dass er in meiner Platz nehmen darf.
Lassen Sie uns noch einmal auf das Schlüsseljahr 1933 zu sprechen kommen. In Interviews mit angloamerikanischen Journalisten, so beschreiben Sie es, fraß Hitler 1933 Kreide, während er gleichzeitig die Gleichschaltung und Aufhebung der Gewaltenteilung betrieb. Den deutschen Eliten sowie der Reichswehrführung signalisierte er insgeheim jedoch ganz klar seinen Anspruch auf „Lebensraum“ im Osten sowie die Unterwerfung Frankreichs mittels Aufrüstung und Krieg. Er betrieb also Fake News nach außen, während er im Inneren klare Fakten schuf. Warum funktionierte das so gut?
Die diplomatische Welt wollte an ihn glauben. Man war zunächst erleichtert, als er sich scheinbar mit Polen verständigte. Man dachte, vielleicht hat Hitler doch eingesehen, dass das mit der Expansion nicht funktioniert. Hitler hat sehr geschickt mit der Tatsache gespielt, dass er im Ersten Weltkrieg Frontsoldat gewesen war. Es gab inszenierte Verbrüderungsszenen mit französischen Frontsoldaten. Er hat mit seinen wahren Absichten immer etwas hinter dem Berg gehalten. Dennoch: Jeder, der sehen konnte, hätte es sehen müssen. Er hatte auch vieles in „Mein Kampf“ und seinen Reden vor 1933 ausgeführt.
Sie schreiben, dass es Hitler von Anfang an darum ging, „Pazifismus“, und „Marxismus“ auszurotten. Das sei ihm zunächst noch wichtiger gewesen als seine Vernichtungsobsession gegenüber jüdischen Menschen. Wofür standen den Nazis diese ideologisch zusammengefassten Gruppen?
Hitler wollte Pazifismus, Marxismus, Sozialismus, Gewerkschaften, aber auch die katholische Zentrumspartei beseitigen. Und vor allen Dingen auch Partikularismus und Föderalismus. Die hielt er zeitweise für gefährlicher als den Marxismus. Alles, was nach Hitlers Dafürhalten die Kohärenz des deutschen Volkes bedrohte, sollte weg. Doch auch ein deutsches Volk, ohne „Minderwertige“ und Juden, war für ihn eine problematische Substanz. Er glaubte, dass die wirklich starken Elemente, die nordischen Elemente, die man zu Staatsbau und Expansion bräuchte, über Jahrhunderte geschwächt worden seien. Durch Zersplitterung, Kleinstaaterei, Reformation, Westfälischen Frieden und dann durch den Kapitalismus und die Deformation in Gestalt der Herausbildung von Klassen. Alles sollte weg, um so, wie er meinte, das deutsche Volk rassisch auf ein anderes Niveau zu heben. Damit sie in zehn, zwanzig, hundert Jahren Angelsachsen und Amerikaner schlagen könnten.
Brendan Simms, geb. 1967, ist Professor für die Geschichte der internationalen Beziehungen an der Unuversität Cambridge. Sein Buch „Hitler. Eine globale Biografie“ ist in der Übersetzung von Klaus-Dieter Schmidt aktuell bei DVA erschienen (1.050 Seiten, 44 Euro).
Die Eröffnunszeremonie des neuen Deutschen Reichtstags ließ Hitler, er war damals schon Reichskanzler, am 21. März 1933 in der Potsdamer Garnisonkirche zelebrieren. Das Bild von Hindenburgs Handschlag mit Hitler ging in die Geschichte ein. Dem früheren deutschen Kaiser Wilhelm II. hielt man symbolisch einen Ehrenplatz frei. Viele Mitglieder der Hohenzollern, der bis 1918 regierenden Kaiserfamilie, waren anwesend. Sie schreiben: „Einer von ihnen, der ehemalige Kronprinz und NS-Anhänger Wilhelm von Preußen, war in der Uniform eines Obersten der Totenkopfhusaren erschienen.“ Andere wie die SPD- oder KPD-Abgeordneten fehlten, für die waren bereits die Plätze im KZ reserviert. Welche Rolle spielt der Tag von Potsdam bei der Zerschlagung von Demokratie und Weimarer Republik?
Die Anwesenheit vieler Hohenzollern war für Hitler wichtig, weil es als ein Zeichen für die Verbrüderung von Nationalsozialismus und anderen konservativ-nationalen Fraktionen verstanden wurde. Das Verhältnis war in der Weimarer Republik oft kompliziert gewesen. Teilweise hat man konkurriert, teilweise kooperiert. Diese suggerierte Einheit am Tag von Potsdam war jedoch keine wirkliche.
Weil es rivalisierende Fraktionen auf der Rechten blieben?
Ja. Hitler hatte zudem eine ziemlich schlechte Meinung von Hohenzollern und anderen Adelshäusern. Allerdings zog er die Hohenzollern den Habsburgern vor. Sie waren immerhin weniger international. Doch hatte er nie die Absicht, die Monarchie wieder einzuführen, was die Hohenzollern natürlich gern gesehen hätten.
Die selbst extrem völkisch und deutschnational eingestellt waren?
Das steht außer Frage. Angefangen mit Wilhlem II. Das ist hinlänglich bekannt.
Heute bestreiten Repräsentanten der Hohenzollern, dass ihre Vorfahren der Etablierung des Nazi-Regimes erheblichen Vorschub geleistet hätten. Sie drängen darauf, nach 1945 im Osten Deutschlands getätigte Enteignungen rückgängig zu machen. Große staatliche Vermögen sollen in ihren Privatbesitz übertragen werden. Was sagen Sie dazu?
Das ist natürlich eine Frage der Definition. Was heißt: „erheblichen Vorschub leisten“?
Der Kronprinz rief zum Beispiel zur Wahl Hitlers und der NSDAP auf, machte im Ausland Werbung für ihn...
Sicherlich haben viele Hohenzollern, insbesondere der Kronprinz, ihren Einfluss zur Machtergreifung der NSDAP geltend gemacht, den Aufstieg der Nazis unterstützt. Das sehen wir auch symbolisch am Tag von Potsdam. Aber dass die Nazis ohne diese Unterstützung nicht an die Macht gekommen wären, das würde ich bezweifeln. Sicherlich haben die Hohenzollern versucht, einen erheblichen Vorschub zur Machtergreifung der Nazis zu leisten. Ob ihnen das gelang, ist aber eine andere Frage.
Aber unstrittig ist doch, dass sie hofften, durch den Aufstieg der Nazis selbst zu profitieren?
Richtig. Aber ob sie es dann tatsächlich taten? Ich bin kein Jurist. Aber als Historiker glaube ich, dass wir dieser Frage nachgehen können sollten. Und zwar ohne, dass, wie zuletzt geschehen, einige Kollegen von den heutigen Hohenzollern juristisch belangt werden.
Sie spielen auf die Strafanträge gegen namhafte und hohenzollernkritische Historiker in jüngster Zeit an?
Das kann ich nicht gutheißen und weiß auch von keinem Historiker, der diese gutheißen würde.
Ex-Kaiser Wilhelm II. gratulierte Adolf Hitler zum Überfall auf die Benelux-Staaten und Frankreich. Ebenso sein Sohn, der vormalige Kronprinz, der damals gleich zur Abrechnung mit Großbritannien – dem „perfiden Albion“ – drängte. In ihrem Hass auf Briten und Amerikaner schienen sich Preußen und Nazis ähnlich?
Eine Abneigung, die Nazis, Preußen oder Hohenzollern mit vielen Deutschen teilten. Vor 1914 hatten viele im Deutschen Reich das Gefühl, das britische Königreich habe sie als verspätete Nation in der sich globalisierenden Wirtschaft abgehängt. Dann war da die eigene Erfahrung der Niederlage im Ersten Weltkrieg, der Seeblockade, des großen Hungers. Dennoch gab es da diese große Bewunderung für das Britische Empire. Und dann für die Amerikaner. Respekt und Angst gingen Hand in Hand.
Ihr Buch trägt den schlichten Titel „Hitler“. Und dann den Untertitel „Eine globale Biografie“. Global war der Zweite Weltkrieg, doch warum soll die Biografie Hitlers, eines eingedeutschten Österreichers, global sein?
Ich glaube, man war aus gutem Grund früher sehr stark auf den deutschen Hitler fixiert. Die Struktur der deutschen Gesellschaft, der deutsche Sonderweg und solche Erklärungsmuster. Die haben alle ihren Platz. Aber wir sollten Hitler auch als Phänomen einer viel breiteren Bewegung begreifen, die sich in Gegnerschaft zum internationalen Kapitalismus verstand.
Faschismus und Sozialismus als unterschiedliche Begleiter eines sich immer stärker globalisierenden Kapitalismus?
Wobei Hitler aber nicht glaubte, dass sich der Nationalsozialismus zum Export eignen würde. Da setzte er ganz auf den Antisemitismus. Der würde international sehr gut ankommen, davon war er überzeugt. Und es lag ihm viel daran, den Antisemitismus und den Antikapitalismus als Erklärungsmuster miteinander zu verbinden. Das wollte er in die Welt setzen und propagieren. Aber auch die Probleme mit der „deutschen Rasse“, sie schienen ihm global. Die besten Deutschen seien über die Jahrhunderte nach Nordamerika ausgewandert. Die Elemente mit der größten Energie, die nun hier fehlten und dann auch noch als feindliche Soldaten im Ersten Weltkrieg zurückkehrten.
Aber rassisch vermischt?
Nein. Er behauptete, die Amerikaner hätten die besten Rassegesetze. Er berief sich auf das amerikanische Einwanderungsgesetz von 1924, welches Osteuropäer und Juden stark diskriminierte. Und Briten bevorzugte. Hitlers Fiktion der „Umvolkung“ resultierte aus seinem Gedanken, die besten Deutschen seien nach Übersee ausgewandert. Und aus Osteuropa seien minderwertige und zersetzende Elemente nachgerückt. Das war seine globale Sicht. Und dann war der Zweite Weltkrieg, und er sprach wieder davon: Wir kämpfen jetzt gegen deutsche Soldaten und Ingenieure, die in amerikanischen Fabriken Waffen bauen, die sie gegen uns einsetzen. Wie damals im Ersten Weltkrieg. So hatte er es bereits in den 1920er Jahren gesagt.
Also eine globale Verschwörungstheorie? Und das haben diese ja so an sich: Wenn man an sie glaubt, klingen sie schlüssig.
Ja.
Das tun wir aber nicht.
Selbstverständlich nicht.
Herr Simms, danke für das Gespräch.
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