Sie leben für den HipHop: Dennis Kyere, Prince Ofori und Isaac Kyere (von links) Foto: Julia Baier

HipHop in Berlin-Neukölln:So real wird es nie wieder

Die drei Brüder der MIK-Family tanzen, modeln und schauspielern. Aber am liebsten sind sie dort, wo alles begann: im Jugendclub in Berlin-Neukölln.

Ein Artikel von

27.4.2020, 17:11  Uhr

Alles grau in grau: Eine dunkelgraue S-Bahn-Brücke quert die mehrspurige, viel befahrene schwarzgraue Hauptstraße Grenzallee im Süden Berlins, im Bezirk Neukölln. Daneben asphaltierte Freiflächen, die sich kaum von der Farbe des bedeckten Himmels unterscheiden, eine Autowerkstatt und viele leere Parkplätze. Einzig das Schild der McDonald’s-Fi­liale leuchtet bunt.

Es ist Mitte März und vermutlich deshalb so leer, weil die Coronapandemie die Leute zu Hause hält. Treffen darf man sich aber noch. Die Tür des Jugend­zentrums Grenzallee ist geöffnet; im Eingangsbereich ein paar Pflanzen mit hängenden Köpfen. „Tanzraum“ steht auf einer Tür, dahinter wummert der Bass.

„Das hier ist der wohl legendärste Raum der Berliner Streetdance-Szene“, sagt Prince Ofori. Er ist ein „O.G.“, ein „Original Gangster“, eine Legende – und das heißt unter HipHopperinnen und HipHoppern schon was. „Jeder, der in den letzten Jahren in der Szene aktiv gewesen ist, war auch mal hier, behaupte ich.“ Prince zeigt in die Richtung, wo die Mädchen und Jungen tanzen, schweißnass und mit glänzender Stirn. Die Fenster sind neblig beschlagen.

Die Jugendlichen sind hochkonzen­triert. In fast hypnotischer Ekstase tanzen sie zu HipHop-Musik, die aus mannshohen Boxen dröhnt. Niemand leitet sie an. Alle versuchen wegen des Virus Abstand zu halten. Und während eine der Tänzerinnen in einen besonderen Flow gerät, sich in die Musik förmlich hineindreht, jede Nuance des scheppernden Beats in eine Bewegung übersetzt, wird drum herum anerkennend ­genickt.

An diesem Mittwochabend findet im Jugendzentrum Grenzallee eine „Session“ statt, eine spontane Verabredung zum HipHop-Tanzen. Sogar Tänzer aus Frankreich sind heute dabei, jemand hat ihnen Bescheid gesagt.

Hier haben sie Wut und Verlorenheit rausgetanzt, sich festgebissen, eigene Schritte entwickelt

Prince Ofori trägt einen Hut, wie man ihn aus dem Sommerurlaub kennt, schief sitzt er auf seinem Kopf. Seine jüngeren Brüder Isaac und Dennis Kyere laufen in Sneakers neben ihm her, beide überragen den Bruder deutlich. Alle drei nennen den Jugendclub ihr Zuhause.

Schon als Kinder waren sie hier, mit 14, 11 und 5 Jahren, 2002 zum ersten Mal, 18 Jahre ist das jetzt her. Hier haben sie ihre Wut und Verlorenheit rausgetanzt, sich festgebissen, eigene Schritte und Choreografien entwickelt oder einfach nur Musik gehört und zusammen gekocht. Hier fing alles an, hier begann ihre Karriere, die sie zu den Choreografen und Tänzern machte, die 2019 die Gruppe Seeed auf ihrer Deutschlandtour begleiteten.

Musiker haben einen Namen, Tänzer kennt man in der Regel nicht. Dabei gilt ihre Crew, die „M.I.K Family“ mit Prince, dem Gründer, als eine der „realsten“ HipHop-Crews von Berlin. Real sein – mehr geht nicht.

Sie prägen schon über ein Jahrzehnt die Trends. Prince, 32, ist berüchtigter Krump-Tänzer. Er hat diesen ausdrucksstarken Stil, der sich durch aggressive, impulsive Bewegungen und viel Emotion auszeichnet, als einer der Ersten in Deutschland bei diversen Theaterproduktionen auf die Bühne gebracht, von der Kulturfabrik Kampnagel in Hamburg bis zum Schauspielhaus Dortmund.

Die drei HipHop-Brüder in Berlin-Neukölln Foto: Julia Baier

Isaac, sein jüngerer Bruder, ist eine bekannte Größe in der rasant wachsenden Afro-Dance-Szene, in der weiche, rhythmisch fließende Bewegungen dominieren. Er ist: „The Afrogiant“.

Und Dennis, 23, der Jüngste der drei, wurde zuletzt Europameister im Litefeet, einer neueren Richtung des Hip-Hop, in der die Füße der Tänzer leicht und schwerelos scheinen.

Ihre „Realness“ macht die Crew aus. Denn Authentizität und echte Erzählungen vom eigenen Leben und sozialen Missständen wurden im HipHop ursprünglich mal großgeschrieben. Der Kommerz kam erst später dazu.

Die drei Brüder verkörpern viel von diesen Ursprüngen des HipHops: Aufgewachsen in Neukölln, einer Gegend, in der das Geld oft knapp ist, die Möglichkeiten oft begrenzt, aber Frust, angestaute Energie und kreatives Potenzial riesig sind. „Ohne den Jugendclub hätten wir nicht tanzen gelernt“, sagt Prince. Nur Kinder mit Kohle hätten in den teuren Studios tanzen können.

Tanz als Sprache

Viele von diesen Kindern ohne Kohle sind auch heute hier in der „Session“ im Jugendzentrum.

Tanz wurde für Prince früh die Sprache, in der er sich ausdrücken konnte. Besser als in seinem anfangs brüchigen Deutsch.

Mit 14 fragte er einen Sozialarbeiter zum ersten Mal nach dem Raum mit der verlockenden Aufschrift „Tanzraum“. Er war erst vor einem Jahr aus Ghana nach Deutschland gezogen, zu seinen Brüdern Isaac und Dennis und der gemeinsamen Mutter mit ihrem Mann. Die Antwort war eine Gegenfrage: „Du willst tanzen?“ Prince wollte.

Ab diesem Zeitpunkt fragt er täglich nach dem Schlüssel zum Raum, immer wenn die Schule aus ist. Dort findet er nur schlecht Anschluss, die Sprache überfordert ihn, er hat Ärger mit den Mitschülern, wird rassistisch beschimpft, immer wieder suspendiert.

Er ist frustiert, sucht nach Ablenkung und findet Anerkennung in der HipHop-Community, seine kraftvolle und spezielle Art zu tanzen, kommt dort gut an. Schon bald fragt ihn der damalige Leiter des Jugendzentrums, ob er nicht als Honorarkraft HipHop-Tanz unterrichten möchte. „Ich glaube, meine Disziplin gefiel ihm“, sagt Prince, „jeden Tag in den Jugendclub kommen, Musik anmachen, für mich allein tanzen.“

Wunden heilen

Die Familie kam nicht wirklich freiwillig nach Berlin. Ihre erste Station in Deutschland war Duisburg. Nach dem plötzlichen Tod der Mutter zog der nun alleinerziehende Vater von drei Jungs nach Berlin. Er brauchte einen Neuanfang. Sie lebten, wie so viele in Neukölln, von Sozialleistungen. Laut Isaac kamen sie „in der Hoffnung, dass Berlin unsere Wunden heilen könnte“.

Prince macht mit Ach und Krach seinen Hauptschulabschluss, wird in Neukölln aber Teil einer „Crew“, einer HipHop-Gruppe. Nebenbei tritt er bei Meisterschaften an, wird zu einem berüchtigten Battle-Tänzer, duelliert sich tänzerisch mit den Größen der Szene Berlins. Schnell ist er das große Vorbild der jüngeren Brüder: Isaac will alles von ihm lernen. Der noch jüngere Dennis ist schon Stammgast im Jugendzentrum Grenzallee, da ist er gerade einmal fünf Jahre alt.

Eine magische Zeit beginnt, in der Prince seine Brüder und viele andere Kids aus dem Viertel im HipHop trainiert. Jeden Tag sind sie da, manchmal auch noch am Abend, 30 Leute kommen mitunter. Prince legt Wert auf Disziplin, lässt sie viele Runden um den Jugendclub joggen, während er oben auf der Treppe steht und eine Zigarette raucht. „Es flossen Schweiß, Blut und Tränen.“

Prince beschreibt die Dynamik als wirkliches „Multikulti“, es sei „Integration auf höchstem Niveau“. Die kommenden Meisterschaften und Battles sind das Ziel, auf das sie hinarbeiten, alle, „egal was du vorher gemacht hast oder woher du kamst“. Sie haben da gar keine Zeit, auf die schiefe Bahn zu geraten.

Sie kommen immer wieder in den Jugendclub in Berlin-Neukölln Foto: Julia Baier

„Der Jugendclub Grenzallee hat schon lange einen Fokus auf HipHop-Kultur als Mittel für die Jugendarbeit“, sagt die Leiterin, Jana Krystlik-Einberger. Man kann neben den Tanzräumen im kleinen eigenen Tonstudio auch selbst Musik machen. Finanziert wird die Einrichtung vom Jugendamt Neukölln aus Töpfen zur Jugendförderung. Alle Honorarkräfte, die hier arbeiten, kommen selbst aus Neukölln, kennen das Viertel, die Menschen und ihre Geschichten. Sie sind Vorbilder für jüngere Kids, sollen zeigen, wie sie sich Respekt in der Gemeinschaft erarbeitet haben, ohne dabei kriminell zu sein. Das Haus funktioniere für viele wie ein „Türöffner“, sagt die Leiterin des Jugendzentrums. Und räumt zugleich ein, dass nicht alle Jugendlichen eine solche Passion entwickeln würden wie die „M.I.K“s im HipHop.

Als 2006 die Deutsche Meisterschaft im Krump ansteht, schlägt die Geburtsstunde der „M.I.K. Family“. Prince krumpt schon länger. Der Stil ist in den afroamerikanischen Gemeinden von Los Angeles entstanden, die Tänzer erzählen Geschichten mit ihren Körpern. Dabei geht es weniger darum, eine besonders saubere Show zu liefern, als darum, sich in einen erregten emotionalen Zustand zu tanzen, „buck“ oder „raw“ zu sein, so heißt das im HipHop-Jargon.

Isaac hat bis dahin nie auf einer Bühne getanzt. Er ist nervös, denn zu der Meisterschaft kommen auch internationale Tänzer. Am Ende gewinnen die Brüder als absolute Underdogs ein Battle nach dem anderen, können es kaum fassen, bis sie zu den überraschenden Siegern gekürt werden. Ein Name ist gefunden: die Berliner „Monsters In Krump“.

Ab jetzt geht es für die Crew nur noch nach vorne, „wir hatten Blut geleckt“, wie Isaac sagt. Weitere Mitglieder stoßen dazu, heute sind sie zu siebt. Sie fangen an, zu Wettbewerben zu reisen. Einmal stecken sie ihre letzten 80 Euro in eine Tankfüllung nach Belgien, schlafen auf den Bahnhofstreppen und halten „Sessions“ ab, damit ihnen nicht kalt wird. Sie wissen: Ohne das Preisgeld gibt es keine Tankfüllung für den Rückweg.

Sie gewinnen. Mit 1.000 Euro in der Tasche erreichen sie Berlin wieder. Es kam ihnen wie ein Vermögen vor. „Das ging fast fünf Jahre so. Von Battle zu Battle, immer in der Hoffnung, dass sich was daraus ergeben könnte, wenn man bekannter wird“, erinnert sich Prince.

Und tatsächlich, es ergeben sich die ersten kommerziellen Jobs. Musiker werden auf sie aufmerksam. Videodrehs für Culcha Candela, Samy Deluxe, Max Herre stehen an. Prince bekommt den ersten Job beim Berliner Theater Hebbel am Ufer. 2013 werden sie Finalisten bei der ProSieben-Show „Got To Dance“.

Über all die Jahre kommen sie weiter ins Jugendzentrum Grenzallee, auch wenn die Jobs immer größer werden. Isaac und Dennis gehen außerdem neben all dem Tanzen noch zur Schule. Vaterfigur Prince ist da entschlossen: „Bildung ist bei uns das A und O.“ Weil seine Schullaufbahn so eine Katastrophe war, sollen die jüngeren „M.I.K“s in beidem bestehen, auf der Bühne und der Schulbank. Isaac machte Abi und hat studiert. Er ist mittlerweile Wirtschaftsingenieur.

„Ganz ehrlich“, sagt Isaac, „wenn man als Dunkelhäutiger schulisch nichts vorzuweisen hat, ist man für viele nichts in Deutschland.“ Er lebt in dem Zwiespalt, professionell vom Tanzen leben zu wollen und gleichzeitig ein anspruchsvolles Studium zu meistern. Was er im Studium lernt, kann er nun in die „M.I.K“-Familie einbringen.

Schweiß in der Luft

Auch die anderen „M.I.K.“s haben studiert oder sind noch dabei. Sie wollen ihr gesammeltes Wissen nutzen, um sich erfolgreicher selbst zu vermarkten. Denn „M.I.K.“s tanzen nicht nur, sie veranstalten Workshops, eigene Tanzkurse, Partys, wie die offizielle Afterparty des Karnevals der Kulturen, und ein eigenes Tanzfestival „Culture Dance Clash“, das jetzt wegen Corona erst mal verschoben wurde. Dennis modelt nebenbei, spielt in dem Kinofilm „Into the Beat“ mit, der im Sommer 2020 erscheinen soll. Ihre Zehntausende Follower auf Instagram sind auch ein großes Publikum, dem sie regelmäßig neue Videos und Moves präsentieren, auch aus den Räumen des Jugendzentrums.

Dort hängt im Raum noch immer der Schweiß in der Luft, es ist mittlerweile kurz vor Mitternacht. Die Musik wird abrupt ausgestellt. Die heutige Session ist vorbei. Oft muss Prince die letzten noch rausschmeißen. Morgen geht es für viele zurück in die „echte“ Welt. Schule, Jobs, Ausbildung, Corona.

Trotzdem: Die „M.I.K.“s tanzen weiter. Jetzt halt erst mal vor allem zu Hause. Wenn das alles vorbei ist, dann findet man sie, egal wer anfragt oder bucht, im Jugendclub in Neukölln. Prince sagt: „Am Ende werden die Menschen nach dem Echten suchen, und dann kommen sie bei uns an.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.