Hilfe für Bedürftige in Berlin: Anstand mit Abstand
Im Wedding gibt der Verein Menschen helfen Menschen weiter Lebensmittelspenden direkt ab. Gründer Horst Schmiele glaubt, dass Begegnung jetzt nottut.
Die Schwächsten der Gesellschaft mit Nahrungsmitteln zu versorgen ist in Zeiten des Sozialen-Distanz-Gebots kompliziert gewornden. Am Bahnhof Zoo etwa muss die Kantine der Bahnhofsmission geschlossen bleiben. Stattdessen werden jetzt Essenspakete durch ein Fenster gereicht. Die Berliner Tafel hat den größten Teil ihrer Essensausgabe auf Lieferservice ins Haus umgestellt. Die Klienten müssen ihren Bedarf vorher bei der Gemeinde anmelden und werden per Kurier beliefert. Das Helfen, so sieht es aus, geht in Berlin auf Abstand.
Horst Schmiele will aber, dass es nach wie vor möglichst direkt geschieht. Und zwar in der Wollankstraße. Im Laden, im Hof und auf der Straße. Er will, dass die Leute kommen können. Indem der Verein Essen, das in Discountern abgeschrieben wurde, einsammelt und in vorgepackten Tüten für einen Euro an Bedürftige weiterreicht, arbeitet er nach demselben Prinzip wie die Laib-und-Seele-Stationen der Berliner Tafel.
Dabei ist er kein Konkurrenzverein, wie schon manchmal geschrieben wurde. Er ist viel kleiner und ganz anders. Wenn die Tafel ein Containerschiff wäre, wäre „Menschen helfen Menschen“ ein Segelboot. Versorgen die Tafeln bundesweit 1,65 Millionen Menschen mit Essen, erreicht „Menschen helfen Menschen“ mit drei Standorten in Berlin etwa 2.000 Menschen im Monat.
Vor 16 Jahren wurde der Verein im Wedding gegründet. Er wurzelt hier und ist eine sehr typische Weddinger Pflanze. Als Schmiele mit allem anfing, ging es ihm darum, Menschen wie denen in ihrer Weddinger Nachbarschaft zu helfen, erzählt er. Eigentlich war es seine Frau Sabine, die die Idee dazu hatte. Von Fotos an der Bürowand lacht sie die Besucher sehr lebensbejahend an. Blond, stark geschminkt, sehr präsent. Als wollte sie jederzeit einen Ball fangen, der mit hoher Geschwindigkeit kommt.
Helfen im eigenen Umfeld
Sabine Schmiele, erst Blumenverkäuferin, hatte dann bei der Berliner Tafel gearbeitet, die damals noch in erster Linie soziale Einrichtungen mit Lebensmitteln unterstützte. Ihr Gedanke war, Lebensmittel direkt an Bedürftige abzugeben. Horst Schmiele sagt: „Wir haben da eine Lücke gesehen: Wir kannten viele, die hier leben, die ihre Kinder nicht gesund ernähren können, die aber nicht unbedingt obdachlos sind oder in sozialen Einrichtungen leben. Und wir kamen selbst aus diesem Umfeld. Wir sind beide hier aufgewachsen. Ich hatte gerade meinen Job im Tiefbau verloren und war arbeitslos. Und da machte ich gleich mit.“
Zu siebt gründeten sie 2004 den Verein. Danach folgt eine lange Geschichte, in der Sabine Schmiele ihr handwerkliches Geschick und ihr Talent als Netzwerkerin und Fundraiserin entdeckt. In der die Vereinsmitglieder mit ihren privaten Autos Essen von Discountern holen und zunächst auf Parkplätzen verteilen. In der sie Räume auftun, renovieren, wieder aufgeben müssen und schließlich ihre jetzigen Räumlichkeiten ausbauen. In der dauernd improvisiert wird. In der Sabine Schmiele im Jahr 2016 nach kurzer schwerer Krankheit stirbt und ihr Mann, vielleicht gerade ihr zu Ehren, umso hartnäckiger weitermacht.
Horst Schmiele wirkt etwas müde, aber nicht so, als wollte er sich unterkriegen lassen. Er trägt einen Schnurrbart. Das Haar, das auf den Fotos noch in Dauerwellen liegt, ist heute fast glatt.
Über dem Laden in der Wollankstraße sind mehrere Schilder angebracht, die Schmieles Sohn gemacht hat: „Soziales Zentrum MHM“, „Kleiderkiste“, „Begegnungsstätte“, „Mappi-Station“ und Hopla-Shop“. Denn das Angebot des Vereins umfasst noch mehr als die Essensausgabe. Zum Beispiel können finanzschwache Eltern für kleines Geld gute Schulranzen erstehen. In der „Kleiderkiste“ kann man sich günstig einkleiden. Die Tür des Ladenlokals sieht aus, als hätte sie bessere Zeiten gesehen.
Wer eintritt, gelangt in ein Labyrinth. Zunächst ist da der „Hopla-Shop“ mit Lebensmitteln und Tausenden anderen Dingen – von Hundefutter über Spielzeug bis hin zu Krücken, alles für Minibeträge zu erstehen. Dort packt ein Mann mit Atemschutzmaske für eine junge Frau gerade Eier, einen Salatkopf und – tatsächlich – einen bunten Tulpenstrauß – ein. Dahinter folgen die „Begegnungsstätte“ mit einem langen Tisch, wo die Gäste normalerweise auf ihre Essenstüten warten, diverse Büros und das Lager. Wohin man auch schaut: Alles sieht sehr privat aus. Hier baumelt ein Teddybär von der Decke, dort hängen Fotos und Auszeichnungen an der Wand. Überall stapeln sich Dinge. Allerdings sind die Innenräume – bis auf den Laden – heute menschenleer. Das muss so sein. Nur der Laden darf geöffnet sein, weil er Lebensmittel abgibt.
Immer nur ein Kunde darf hinein. Die draußen warten, werden nacheinander aufgerufen. Die Abgabe der Tüten findet im Hof statt. Das ganze Leben in und um „Menschen helfen Menschen“ hat sich auf die Straße verlagert. Eine ältere Dame fragt Schmiele nach dem Preis für alle Folgen einer Serie auf DVD. Es sind 5 Euro. Weil sie es ist.
Horst Schmiele hat entschieden, seine Essenausgabestellen offen zu halten. Denn er möchte, dass sein Angebot niedrigschwellig bleibt. Ob diejenigen, die hier mit ihren Trollies warten, einen Antrag auf Lieferung von Lebensmitteln in ihre Privatwohnungen stellen würden? Er glaubt es kaum. Viele von ihnen kennt er persönlich. Hartz-IV-Empfänger sind darunter, auch Aufstocker, also „Working Poor“, denen das verdiente Geld nicht reicht.
Die Abholtermine von „Menschen helfen Menschen“ sind Montag bis Mittwoch und Samstag in der Wollankstraße 58–60 von 11 bis 14 Uhr. Mittwochs und freitags mobil in Hohenschönhausen vor dem Kieztreff Falkenbogen von 15 bis 16.30 Uhr. Montag und Donnerstag mobile Ausgabe in Marzahn am Blumenberger Damm 12–14 von 15 bis 16.30 Uhr.
Spendenkonto: Menschen helfen Menschen, Berliner Sparkasse, IBAN: DE44 1005 0000 6603 0013 04, Kennwort: Kiezsolidarität.(taz)
Außerdem war dem Verein immer wichtig, dass das Abholen der Lebensmitteltüten auch damit verbunden ist, anderen zu begegnen. Armut bedeutet in Deutschland ja oft gerade einen Mangel an Ansprache und an Raum mit entsprechenden Qualitäten. Gerade jetzt, wo sich die Menschen ins Private zurückziehen, fällt umso mehr ins Gewicht, wer ein angenehmes Nest fürs Corona-Cocooning hat – und wer nicht. Schmieles Klientel hat es eher nicht. Zwar muss die „Begegnungsstätte“ geschlossen bleiben. Aber vor der Station sieht man sich – auch wenn man eineinhalb Meter Abstand halten muss.
Damit all das – trotz Corona – weiter möglich ist, muss der Verein mehr wuppen als sonst. Dabei ist er auf Einnahmen aus Spenden angewiesen. Schmiele, der Rentner ist und aus dem Verein kein Gehalt bezieht, muss zusehen, die Ausgaben für Miete und den Unterhalt der Fahrzeuge zu decken. Das ist jetzt schwer. Denn Firmen, die selbst um ihre Existenz fürchten, sind weniger spendabel. Und die „Kleiderkiste“, die sonst etwas Geld abwirft, darf derzeit nicht öffnen.
Eine weitere Hürde: In normalen Zeiten unterstützen „Zusatzjobber mit Mehraufwandsentschädigung“ – im Volksmund 1-Euro-Jobber – die täglichen Arbeiten im Verein. Jetzt hat das Arbeitsamt sie nach Hause geschickt. Das Fahren, das Packen und die Essensausgaben bewerkstelligen jetzt Freiwillige, die dafür nicht bezahlt werden.
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