: Hier hat jede Fuge Sinn
Das deutsch-ukrainische Pilotprojekt „Hope Home“ im südwestukrainischen Perwomaischke versucht den Wiederaufbau in Schönheit und Würde. Ein Ortsbesuch

Von Elke Schmitter
Schon sehr viel Himmel hier.
Perwomaiske, „Erster Mai“, liegt im Südwesten der Ukraine, inmitten enorm flacher Felder. An Tagen wie diesen, zu Anfang des Juni, sieht es hier tatsächlich aus wie die Fahne; unten der gelbe Weizen, oben das Blau. Hin und wieder ist es so still, dass sogar die Hunde Langeweile haben. Drei offensichtlich nicht verwandte liegen gemeinsam an einer Kreuzung und warten darauf, dass wenigstens ein Fahrrad kommt.
Weil es auch beim stillen Lesen Verdruss bereitet, wenn man sich die Namen nicht denken kann, schreibe ich es gleich: die Ortschaft, um die es geht, spricht sich Perwomaischke, Betonung auf ai, die Hauptstadt der Oblast klingt wie Mikolaijef.
Und ein zweites Vorweg kommt hinterher, von der Architektin Sophie Halat. „Wir leben hier nicht im Krieg“, sagt die Ukrainerin am zweiten Tag, vielleicht genervt von vorauseilender Behutsamkeit– belegte Stimmen, umwegige Fragen, insesamt eine Art Temperamentsdrosselung – der Reporterin aus Deutschland, die das Projekt namens „HOPE HOME •НАДІЯ“besucht. „Wir leben neben dem Krieg. Niemand kann vier Jahre Ausnahmezustand hintereinander. Ja, es fallen Bomben, Raketen, je nachdem, wo du bist, und es sterben auch Menschen, die dir viel bedeuten. Aber wir sind hier nicht an der Front. Wir studieren, wir arbeiten, wir gehen essen und wir gehen tanzen. Wir haben nicht dauern Angst, und wir sind keine Leichen auf Abruf. Wir versuchen, ein möglichst normales Leben zu führen. Und an das Danach zu denken.“
Zum möglichst normalen Leben gehört ein Zuhause, und damit fing die Geschichte an. Nach etlichen Jahren Beschäftigung mit Ästhetik und Nachhaltigkeit sann die Kuratorin Adrienne Goehler – Präsidentin der Hamburger Hochschule der Künste in den 1990ern, Anfang des Jahrhunderts Kultursenatorin in Berlin – auf Praxis. Im Sommer 2023 war die von ihr initiierte Ausstellung „Zur Nachahmung empfohlen“ nach dreizehn Jahren Reise um die Welt (20 Stationen, 4 Kontinente, 139 künstlerische Positionen) beendet, damit auch ein Prozess des kollektiven öffentlichen Lernens in Gang kommen konnte. Und ein Erforschen der Frage: Was kann die Kunst im Anthropozän bewirken? Was könnte ein Bündnis zwischen Materialbewusstsein, ökologischem Denken und Ästhetik beitragen? Und muss, das ist ja eine drängende Frage in der krisenhaften Gegenwart, Wiederaufbau nach dem Krieg im immer gleichen kapitalistischen Muster verlaufen, das sich gleichgültig gegenüber den Leuten, der Landschaft, den jeweiligen Traditionen verhält – wie auch ungerührt vom Klimawandel?
Schon immer hat man auf dem Land mit Lehm gebaut, mit Stroh und Hanf, mit Schilf und Wolle, hat gedämmt und gekittet mit dem, was eben da war, in der Umgebung. Was in aller Regel nicht nur nachhaltig und preiswert, sondern auch angenehm war, klimatisch wie für das Auge. Beton ist kein Schicksal und auch kein Patentrezept, es ist vor allem zweierlei: ein großes Geschäft mit guter Rendite und ein ökologisches Desaster. Die internationale Bauindustrie verantwortet 40 Prozent des CO2, das weltweit in die Atmosphäre gepustet wird, und jeder Krieg, zumal in den industrialisierten Ländern, ist ein Booster für die Branche wie eine Katastrophe auch für das Klima.
Aber Bauen mit Beton, mit Dächern aus Blech und Fenstern aus Plastik, das geht natürlich schnell. Und ist effizient, wenn man kurzfristig denkt: Hier sind Leute ohne Zuhause – schwupps, lässt man ein neues Stadtviertel oder ein Dorf erstehen. Man muss nur warten, bis es Frieden oder einen soliden Waffenstillstand gibt, damit man die Verträge zeichnen kann. Hier setzt „HOPE HOME • НАДІЯ“einen Fuß in die Tür.
Was wäre, fragte sich Adrienne Goehler, wenn man das, was die Menschen immer schon wussten, aber in wenigen Generationen aus vielen Gründen vergaßen (Schnelligkeit, Profit, Bequemlichkeit, „Modernität“), nicht nur wieder ins Gedächtnis riefe, sondern auch in die Praxis? Wenn man außerdem den aktuellen Stand der Wissenschaft nutzte, bei dem beispielsweise Pilze gezüchtet werden, die Asbest neutralisieren? Asbest ist der Problemstoff der Bauindustrie, in der Ukraine zumal. Bomben zerstören Dächer. Die Dächertrümmer verteilen Asbest in der Umgebung, was für alles Lebendige dauerhaft von Übel ist.
Was also wird, wenn man ein kleines Pilotprojekt in der Ukraine begründet, zwischen Zerstörung und einem Wiederaufbau nach dem bekannten, ökologisch verheerenden Muster? Und wenn man zugleich nach zwei Prinzipien handelt, die bei jedem schnellen Wiederaufbau (vielen deutschen Städten sieht man es bis heute an) verlieren, nämlich Ästhetik und Partizipation? Wenn die Menschen in der Region nicht nur das buchstäbliche Dach über dem Kopf bekommen, sondern gemeinsam darüber entscheiden, was zuerst wieder aufgebaut wird? Wenn sie sich zudem praktisch beteiligen, mit ihrer Erfahrung und Kompetenz? Und wenn, was da entsteht, den Sinn für Schönheit nicht kränkt, den wir alle haben und der Touristen in die Toskana und nach Südfrankreich führt, nach Dubrovnik und Riga, überall dahin, wo Gemäuer und Farbe, Klimatechnik und Vegetation, wo form, function and feeling diskret harmonieren?
Alles zusammen, sagt Goehler (die studierte Psychologin ist), passt außerdem zu dem, was die Traumatherapie empfiehlt: die Verbindung von Hand und Kopf beruhigt das Nervensystem, und manuelles, auch mechanisches Tun, sichtbare Arbeit mit allen Sinnen schafft die Erfahrung von Selbstwirksamkeit und Selbstermächtigung. Kooperation, Vertrauen in sich und andere gehören zum Prozess und wachsen mit. Häuser heilen; so kann man das Ganze fassen.
„Das ist unser Gymnasium“, sagt die Leiterin der örtlichen Verwaltung bei unserem ersten Rundgang, „das ist unsere Grundschule und das der Kindergarten.“ Dabei deutet sie auf drei Hügel von Schutt, ordentlich aufgeschichtet, dazwischen die Straße, von Blumenrabatten gesäumt.
Die Ernte ist noch nicht reif; die großen Wagen, die man sieht, sind Minenräumer. Die Warnschilder in den riesigen Äckern sehr klein, aber unmissverständlich, ein Totenkopf auf rotem Grund. Hier verlief die Route der ersten Invasion im Februar 2022, als die russischen Soldaten die Paradeuniform für die Siegesparade in Kyjiw, zu der es dann doch nicht kam, schon im Marschgepäck hatten. Auf dem hunderte Kilometer langen Weg verminten sie die Felder und sorgten dafür, dass ein Nachbardorf wie Partisanske nur noch aus Ruinen besteht. Was etwas Beruhigendes haben kann, denn hier gibt es keine Entscheidung zu treffen. Fordernder für das Gemüt scheint jedenfalls mir, der Reporterin, der Zustand vieler Gebäude in Perwomaiske. Ist einmal das Dach zerstört, regnet es rein, werden die Dinge modrig und feucht, machen es sich kleine Tiere gemütlich. Die Gleichzeitigkeit von Lebensspuren und unaufhaltsamem Verkommen schafft eine erschöpfende Ambivalenz: Ist das hier Zukunft oder kann das weg?
Der zweifelhafte Status all dessen, was noch übrig ist, erzwingt in einem fort Entscheidungen, und selbst die lassen sich erst treffen, nachdem man, vielleicht vergeblich, tätig wurde. Man deckt Geborstenes ab, flickt Kaputtes notdürftig, man muss Dinge fixieren, um sie transportieren zu können, nimmt baumelnde Lampen erst mal ab, damit sie niemandem auf den Kopf fallen. Auch das eine Antwort auf die in Deutschland häufig gestellte Frage an das Projekt: Wiederaufbau, im Krieg, lohnt sich das überhaupt? Manche Seelen sind sicher noch schockgefroren, man sieht bei einigen Bewohnern diesen schleppenden Schritt auf unversehrten Beinen. Doch bleibt jenseits der Psyche die Zeit eben nicht stehen, und jeder Monat schichtet neue Probleme auf die nicht ganz so neuen.
9.000 Einwohner gab es in Perwomaischke, 2.500 sind noch übrig. Die Zuckerfabrik, der größte Arbeitgeber der Region, wurde bombardiert und ist außer Betrieb. Ein loses Stück Blech auf dem hohen Dach sorgt in der steten Brise über dem flachen Land für einen Sound wie in einem alten Western; mal jault es wie eine rostige Winde, dann kreischt und scheppert es wieder, dazwischen ein scheuerndes Schleifen …
Es ist wie überall auf dem Land, nicht nur in der Ukraine: wer was vorhat im Leben, geht in die Stadt, wer gerade erwachsen wird und nicht zum Militär muss, auch. Etwa 300 Kinder und Jugendliche leben hier noch; es gibt keine Kneipe, der kleine See ist ökologisch gekippt, und die Bänke mit Unterstand, die sich die Leute selbstständig gezimmert haben, sollen weg: Privatbesitz, die heilige Kuh des Kapitalismus.
Aber nun geht ja etwas Neues los.
Ein Jugendzentrum soll es werden, im Erdgeschoss des großen zentralen Gebäudes, gleich bei der bombardierten Zuckerfabrik. Hier war mal ein Kulturhaus mit Restaurant und verglaster Fassade, dann flogen alle Scheiben durch die Druckwelle raus; nun ist es Anlaufstelle für diverse Hilfsorganisationen, die hier ihre Kisten stapeln. Kinderzeichnungen hängen an den Wänden, dazwischen quillt der Bauschaum; bis auf ein neues, intaktes Fenster sind alle Rahmen mit Holzplatten vernagelt. Aber im Halbdunkel, an einem langen Tisch in der Mitte wird jeden Tag frisch Gekochtes aufgetragen; es gibt Suppe, Salate, Fleisch mit saurer Sahne für zwei Handwerker und fünf Adoleszente, den Geologen Dr. Hoepfer aus Mecklenburg, die Übersetzerin und die Projektleiterin aus Mikolajiw. Hin und wieder stoßen Leute aus der Gemeinde dazu, auch der Bürgermeister. Dazwischen und gleichsam überall Adrienne Goehler und die Architektin Sophie Halat.
Das Duo hält alle Fäden zusammen und spinnt neue Netze: Kann man den UNHCR überzeugen, die Nachhaltigkeitsziele, eigentlich international vereinbart seit 2015, auch tatsächlich einzuhalten, vielleicht mit sanftem Druck aus der Politik? Kriegen wir einen runden Tisch zusammen, bei dem klar wird, ob die Bevölkerung hier selbst nachhaltiges Interesse hat? Wann kommt nochmal das Regionalfernsehen, und kann man denen demonstrieren, wie die Jungs diese Natursteine formen? Das ist doch eine traditionelle Technik.
Wieso denn nicht Beton, hat Svyat, der informelle Anführer der Jugendlichen im Workshop, schon am ersten Tag gefragt. Der dumpf duftende Lehm in der Trommel, dieser Sack Stroh in der Sonne, echt jetzt? Als man das Gemisch an die Wand klatschen kann, mit Schwung, und mit den Händen verteilen, merkt man den beiden Handwerkern eine gewisse Lust an der Sache an; sie müssen keine Sorge haben, als infantil zu gelten. Die Jungs brauchen etwas länger. Arbeit ist gut, wenn sie läuft. Ein Stück Land unter Schutt freilegen, einen Baustein im selbstgebauten Kasten fertigen, einen Sack mit Erde füllen und auf den Pickup hieven, das strafft den Gang und das Gemüt.
Wenn die Arbeit stockt, rollt man sich eine Zigarette. Am fünften Tag kommt eine Großmutter ins Spiel, die früher in „so was“ wohnte. Wo man besser schlief als zu Hause unter dem Blechdach. Deren Haus man doch reparieren könnte. Und am siebten Tag entsteht die Fantasie, eine kleine Firma zu gründen; man hievt sich in diesem Alter schnell aus der Grube Abwehr in eine Spitzenposition.
„Hoffnungen kaufe ich nicht“, heißt es bei Michel de Montaigne, der landschaftsgemäß in Kalksteinwänden schrieb, unter einem Hohlziegeldach aus gebranntem Ton. Als Bürgermeister, eher wider Willen, hielt er die Stadt Bordeaux vor vierhundertfünfzig Jahren aus den schlimmsten Bürgerkriegsszenarien heraus. Doch Hoffnung muss sein Kollege Maksym Korovai entwickeln für seine Gemeinde.
In dieser prekären Phase vor einem Waffenstillstand oder Frieden, wann immer der kommt, an dieser Ex-Front, wo Apathie und Agonie kaum zu unterscheiden sind, ist Hoffnung kein Luxus, sondern eine soziale Notwendigkeit. Arbeitsplätze werden gebraucht, aber auch Perspektiven für die Familien, die aus Perwomaiske geflüchtet sind. Aus den zerstörten Wohnblöcken am Ortsrand wie aus dieser hinreißend schönen, klug gebauten und allzu stillen Siedlung hinter der Zuckerfabrik, in der die Rosen ranken und die Vögel sich an den Kirschen gütlich tun.
Immerhin wird gerade ein provisorisches, wenn auch viel zu kleines Schulgebäude eingeweiht, aus anthrazitfarbenem Plastik (in der Hitze des Sommers natürlich ideal). Es war lange versprochen, doch verzögerte sich immer wieder, zuletzt durch Trumps Politik, den großen Hilfsorganisationen wie USAID Gelder zu blockieren. Seit mehr als drei Jahren ist immer wieder dieses Muster zu beobachten: dass Hilfe kommt, aber nur punktuell. Dass Fenster geliefert werden, während die Wände verschimmeln. Dass mal die eine, mal die andere NGO Interesse zeigt, etwas anfängt und wieder geht. Dass aus der ersten Hilflosigkeit eine zweite, eine erlernte, wird.
So zeigt sich immer deutlicher: es geht nicht nur um Materie. Es geht, wie immer, um ein soziales Geschehen, das aus Hoffnung, aber auch aus Verlässlichkeit besteht, das Erfahrung braucht und die respektvolle Frage: Was brauchst du?
Auch bezogen auf die Ukraine ist der Haushalt der Bundesregierung ein vorläufiger. Waffenlieferungen sind vorgesehen, aber keine weiteren Projektgelder für Initiativen wie HOPE HOME • НАДІЯ (das dritte Wort heißt Hoffnung, wie das erste), die sich bis wenigstens zum September aus privaten Spenden finanzieren muss. Vom Akkuschrauber bis zu dem einen WC, das funktioniert, ist alles aus Kleinbeträgen entstanden. Die Ideen aber sind groß: Man kann hier eben zeigen, wie Wiederaufbau auch möglich ist. Man kann Ausbildungsplätze schaffen und, in einem Strohhotel, das einstweilen noch auf dem Papier existiert, all jene unterbringen, die lernen wollen, wie das zusammengeht, die Schönheit, die Ökologie und die so antastbare Würde.
Ganz schön viel Himmel hier, auch auf dem Weg zurück. Odessa, wo ich vor sieben Jahren zum letzten Mal war, ist ein anderer Ort geworden. Ich hatte es in Erinnerung wie Ostberlin vor dem Mauerfall; eine Stadt wie ein siecher Patient. Nun ist es schmuck und prosperierend, die Straßen voller Restaurants, ein Wirtschaftszentrum im Krieg. Die Entfernung von Perwomaiske beträgt 130 Kilometer und eine lange Strecke Geduld und Ungeduld.
Elke Schmitterist Autorin in Berlin.
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