Helferin zur Situation in Syrien: „Menschen in Panik“
Das Erdbeben hat in Syrien große Verwüstung angerichtet. Auch Bohrlöcher wurden zerstört – was die Wasserkrise verschärfe, so Bahia Zrikem von der Hilfsorganisation NRC.
taz: Frau Zrikem, das Erdbeben hat in Syrien besonders schwer in Landesteilen gewütet, die nicht unter der Kontrolle der Regierung stehen. War man dort vorbereitet auf eine solche Katastrophe?
Bahia Zrikem: Keine Region Syriens war auf ein Desaster wie dieses vorbereitet. Häuser sind in sich zusammengestürzt, Schulen und Gesundheitseinrichtungen wurden zerstört. Die Krankenhäuser sind voller Verletzter. Viele arbeiten jetzt zur Sicherheit außerhalb der Gebäude. Meine Kolleg*innen in ganz Syrien berichten über Nachbeben und Warnungen vor weiteren Beben. Die Menschen haben Angst, sind in Panik, wissen nicht, was passiert.
Ausgerechnet das Rebellengebiet in Nordwestsyrien scheint am stärksten betroffen zu sein. Wie ist die Situation dort?
Einige Gebiete dort stehen unter Kontrolle von Hai'at Tahrir al-Sham oder HTS, einer Gruppe, die international als terroristische Vereinigung angesehen wird. Auch andere bewaffnete Gruppen kontrollieren Gebiete. Viele Menschen hatten schon vor dem Erdbeben keinen Zugang zu Strom und Internet. Das Beben hat zusätzliche Infrastruktur beschädigt. Daher ist es aktuell sehr schwer, an präzise Informationen zu kommen.
Was wissen Sie?
Dörfer und ganze Nachbarschaften wurden zerstört. Auch urbane Zentren wurden hart getroffen, was bedeutet, dass die Zahl der Binnenvertriebenen in Syrien steigen wird. Unsere Kolleg*innen im Nordwesten, aber auch anderswo in Syrien, berichten, dass sie in ihren Autos schliefen, weil sie Angst hatten, nach Hause zurückzukehren. Die Opferzahlen steigen aktuell noch. Bergungsarbeiten sind fast unmöglich, weil die notwendigen Gerätschaften fehlen. Auch Wasserbohrlöcher sind zerstört worden, die von Hilfsorganisationen gebraucht werden, um Wasser in den Lagern zu verteilen.
37, ist bei der Hilfsorganisation Norwegian Refugee Council (NRC) für Syrien zuständig. Sie arbeitet von der jordanischen Hauptstadt Amman aus.
Wie viele Menschen leben in Zeltlagern?
In dem Gebiet leben 2,8 Millionen Menschen, die in der Vergangenheit aus anderen Regionen Syriens vertrieben worden sind, in Lagern, die meisten immer noch in Zelten oder Notunterkünften. Zugang zu Wasser beschränkt sich auf Lastwagenlieferungen. Nahrungsmittel kommen über Hilfsorganisationen. Kinder haben sehr begrenzten Zugang zu Bildung und Gesundheit. Und jetzt wird es auch noch kälter in den kommenden Tagen. Am Dienstag wird ein Schneesturm erwartet in Nordsyrien.
Nordwestsyrien war ohnehin schon in weiten Teilen auf Hilfe angewiesen. Ist das in der jetzigen Situation ein Vor- oder Nachteil?
Dass humanitäre Hilfe bereits koordiniert ist, ist ein Vorteil, es kann jetzt schneller gehandelt werden. Das Problem ist aber, dass Syrien zurzeit sowieso durch die schlimmste humanitäre Krise der vergangenen zwölf Jahre geht (seit Ausbruch des Kriegs 2011, d. Red.). 15 Millionen Menschen sind auf Hilfe angewiesen. Dieses Beben erhöht den Grad der Zerstörung und der Hoffnungslosigkeit in einem Maße, das die Syrer*innen wirklich nicht brauchen.
Wie kommt humanitäre Hilfe in die Gebiete, die nicht von der Regierung kontrolliert werden?
Eine UN-Resolution, die der Sicherheitsrat alle sechs Monate verlängert, ermöglicht, dass Hilfe (aus der Türkei, d. Red.) direkt über einen Grenzübergang nach Nordwestsyrien gebracht wird. Im Nordosten dagegen kommt Hilfe entweder über die Hauptstadt Damaskus oder aus dem Irak.
Kann diese direkte Cross-Border-Hilfe, die unabhängig vom Assad-Regime in Damaskus organisiert wird, denn einfach erhöht werden? Ein Grenzübergang für mehrere Millionen Menschen in Nordwestsyrien klingt wenig.
Eine Erhöhung ist möglich. Was wir brauchen, ist einerseits Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, damit Hilfsorganisationen und syrische Organisationen, die Zugang haben zu den betroffenen Gegenden, die Menschen unterstützen können. Hilfsorganisationen müssen die Unterstützung außerdem flexibler einsetzen dürfen. Andererseits werden wir mehr Finanzierung brauchen. Wir hoffen, zumindest einiges an Leid lindern zu können.
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