Heimerziehung in der DDR: Die Leidtragenden brauchen Hilfe

Das Buch „Den Betroffenen eine Stimme geben“ handelt von Opfern der DDR-Heimerziehung. Die Au­to­r*in­nen stellen ihr Werk im Online-Gespräch vor.

Schrifttafel mit dem Satz "In der Nacht hat man zu schlafen nicht zu quatschen"

Ausschnitt aus einer Gedenktafel in der Ausstellung Jugendwerkhof Torgau Foto: picture alliance

Es gibt Menschen, die haben eine dermaßen große Angst vor Autoritäten, dass sie selbst dann nicht die Polizei rufen, wenn bei ihnen eingebrochen wurde. Andere können kein fensterloses Badezimmer betreten, weil sie sich in eine Arrestzelle versetzt fühlen. Sie wurden in ihrer Kindheit und Jugend geschlagen, gedemütigt, misshandelt und missbraucht. Sie sind Opfer der Heimerziehung in der DDR.

Nun erscheint ein Buch, das diesen Opfern Gehör verschaffen soll. „Den Betroffenen eine Stimme geben“ wird am 23. Februar in einer live aus dem Literaturforum im Brecht-Haus gestreamten Veranstaltung präsentiert: Die beiden Au­to­r*in­nen Angelika Censebrunn-Benz und Mario Wenzel stellen ihre Arbeit, die kostenfrei zu bekommen ist, in einem Gespräch mit Wolfgang Benz vor.

In ihr wird erstmals das System der DDR-Heimerziehung konsequent aus der Perspektive der Betroffenen durchleuchtet. Die Sammlung von Interviews, so Censebrunn-Benz im Gespräch mit der taz, dient nicht zuletzt dazu, „dass es nicht mehr nur Einzelstimmen sind, die allein auf weiter Flur stehen und erklären und sich rechtfertigen müssen, warum sie im Heim waren. Wir wollen auch klarmachen: Es waren keine Einzelfälle.“

Genaue Zahlen gibt es nicht, weil die Dokumente nicht vollständig und verlässlich sind, aber es dürfte nahezu eine halbe Million Betroffene geben, die das Heimerziehungssystem der DDR durchlaufen haben. Manche mussten nur wenige Wochen in einem Heim bleiben, andere wurden ihre ganze Kindheit und Jugend in immer wieder andere Einrichtungen verbracht, von den Normalheimen über die Durchgangs- und Spezialkinderheime und Jugendwerkhöfe bis zum berüchtigten Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau, in dem mit militärischem Drill, Zwangsarbeit, Schikanen und Bestrafung die Persönlichkeit der angeblich „schwer erziehbaren“ Jugendlichen gebrochen wurde.

Verhaltensauffälligkeiten als Gründe

Die Gründe, warum ein Kind im System landete, waren vielfältig. Oft ging es um Verhaltensauffälligkeiten, um Schuleschwänzen oder vielleicht Vandalismus, womöglich hatte jemand aber auch nur zu laut die falsche Musik gehört oder die Haare zu lang getragen. Geradezu absurd ist es, dass Kinder, die aus ihren Familien genommen wurden, weil sie dort missbraucht worden waren, dann im Heim dem Missbrauch durch andere Kinder und Heimpersonal ausgesetzt waren.

Angelika Censebrunn-Benz sammelt diese Geschichten seit 2018 für die Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau. Die Historikerin und ihr Kollege Mario Wenzel haben seitdem über 70 Interviews mit Betroffenen geführt, die in einer Datenbank der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Denn, so formulieren es die beiden in ihrer Broschüre:

„Die Leidtragenden existieren noch. Und sie bedürfen unserer Hilfe in Form von Anerkennung und Respekt. Wir können das den Opfern der DDR-Heim­erziehung widerfahrene Leid nicht ungeschehen machen. Aber wir können einen Platz anbieten für ihre Geschichten, können dafür sorgen, dass die Betroffenen sich trauen, sie zu erzählen, und wir können sie darin bestärken, dass sie nicht schuld sind an dem, was ihnen widerfahren ist.“

Denn bis heute ist Scham immer noch stark verbreitet unter den Opfern. Über Jahre und in jedem Heim anders, aber schlussendlich systematisch, wurde den Kindern und Jugendlichen vermittelt, dass es ihre eigene Schuld war, dass sie nicht dem Ideal des sozialistischen Menschen entsprachen. Ein Bettnässer war selbst schuld, dass er einnässte – niemand fragte nach seiner Psyche, seinen Traumata, seiner Vorgeschichte. Ein Stigma, das bis heute existiert.

Psychische und physische Folgen

Viele haben bis heute ihren Lebenspartnern und Verwandten nicht von ihrem Leid erzählt, obwohl sie an den Spätfolgen leiden und oft psychisch und physisch schwer erkrankt sind. Dass viele der Betroffenen bis heute auf Anerkennung und Entschädigung warten, dass der Entschädigungsfonds für Ost-Heimkinder nach hohen bürokratischen Hürden nur Sachleistungen auszahlt und 2018 auslief, während der für West-Heimkinder unbegrenzt eingerichtet wurde, trägt auch nicht dazu bei, dass die Opfer der DDR-Heimerziehung offen mit ihrer Geschichte umgehen.

„Schwer erziehbar in der DDR: Der Jugendwerkhof und seine Folgen – Wolfgang Benz im Gespräch mit Angelika Censebrunn-Benz und Mario Wenzel“. Am 23. 2., 17 Uhr, www.lfbrecht.de

Angelika Censebrunn-Benz und Mario Wenzel: „Den Betroffenen eine Stimme geben“. Initiativgruppe. Geschlossener Jugendwerkhof Torgau e.V., erhältlich über die Gedenkstätte: www.jugendwerkhof-torgau.de

Deshalb gibt es noch allerhand aufzuarbeiten an diesem, wie es die Bundesregierung in einem Fazit zu den Entschädigungs-Fonds schrieb, „dunklen Kapitel der neueren deutschen Geschichte“. Censebrunn-Benz hofft, dass „Den Betroffenen eine Stimme geben“ die Gedenkstätte und die Datenbank in der Öffentlichkeit bekannter macht „und sich vor allem auch noch mehr Zeitzeugen und Zeitzeuginnen bei uns melden und bereit sind, ihre Geschichte zu erzählen“.

Wichtig, so Censebrunn-Benz, wäre auch, dass in der Öffentlichkeit ein breiteres Bewusstsein für die Problematik und das immer noch herrschende Leid entsteht. Denn viele der Betroffenen sind nicht nur aktuell mittellos und oft ohne Arbeit, weil sie in ihrer Heimkarriere meist keine oder nur eine rudimentäre Berufsausbildung abschließen konnten, sie haben auch bis heute oft Probleme, zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen, weil sie nicht gelernt haben, Vertrauen zu fassen.

Wenn diese Menschen nun älter werden, sind neue Schwierigkeiten vorprogrammiert, wenn sie in Krankenhäusern und Altenheimen in Situationen geraten, die sie in ihre schlimme Vergangenheit zurückversetzen. „Da kommt auf unsere Gesellschaft, das muss uns klar sein, eine große Aufgabe zu“, sagt Angelika Censebrunn-Benz, „für diese Menschen muss mehr getan werden.“

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