Heimat im Alter: WG statt Ruhestand am Mittelmeer
Die Migranten der ersten Generation sind alt geworden und einige pflegebedürftig. In Hamburg gibt es nun türkische Alternativen zum klassischen Altenheim.
HAMBURG taz | Die Sofas vor dem großen Plasmafernseher im Aufenthaltsraum sind nahezu voll besetzt. Fast die ganze Wohngemeinschaft Veringeck sitzt zusammen und schaut sich eine türkische Nachrichtensendung an. Eine Betreuerin werkelt in der angrenzenden Küche herum, räumt die Reste des Abendessens weg. Großzügig sind der Aufenthaltsraum und die Küche mit ihren zwei Herden und den großen Arbeitsflächen. „An dem einen Herd steht oft meine Mutter, sie ist noch ganz fit und kocht gern“, sagt Yeşim F. Sie hat ihre Mutter vor gut einem Jahr in Hamburgs erste türkische Seniorenwohngruppe gebracht.
„Ein Glücksgriff“, sagt sie und schiebt strahlend hinterher: „So will ich auch mal alt werden – in der Gemeinschaft.“ Eben jene Gemeinschaft tut auch ihrer Mutter gut. Die schlanke, großgewachsene Frau ohne Kopftuch ist erst hier in der WG wieder aufgeblüht, erzählt ihre Tochter. Hier hat Sermin I. sich von ihrem letzten Krankenhausaufenthalt erholt, hier kocht sie türkische Spezialitäten und hilft den anderen, denen es schlechter geht als ihr. „Auch die Demenz ist auf dem Rückzug“, sagt ihre Tochter, die im Hamburger Karolinenviertel ein Reisebüro betreibt.
Die Arbeit macht es ihr unmöglich, sich rund um die Uhr um ihre Mutter zu kümmern. Das Kümmern aber gilt in vielen türkischen Familien noch immer als Selbstverständlichkeit – trotz der veränderten Lebens- und Arbeitsbedingungen hier in Deutschland.
In Hamburg ist das Veringeck bisher die einzige Wohngruppe für türkische Senioren, die in ihrer Heimatsprache umsorgt und wenn nötig gepflegt werden. „Aber Familienangehörige abzugeben, ist ein Tabu in der Türkei. Erst recht in ein Heim“, sagt Yeşim F. Das ist einer der Gründe, wieso sie und auch die anderen Frauen ihre vollen Namen hier nicht veröffentlicht sehen wollen. Wer seine Eltern in einem Heim betreuen lässt, wird in der türkischen Gemeinde geringschätzig angeguckt.
An den Pranger gestellt
So wie Emine A., die ihre Mutter als erste Bewohnerin im Veringeck angemeldet hat. Das war im Januar 2012. „Vier Jahre habe ich meine Mutter zu Hause gepflegt“, sagt sie. Dann habe sie es allein schlicht nicht mehr geschafft. „Doch von den Nachbarn wurde ich nur gefragt: Wie kannst Du so was machen?“, erinnert sie sich und fährt sich mit der Hand über die Augen. Verletzt, zu Unrecht an den Pranger gestellt fühlt sich die Erzieherin. Sie arbeitet einem Kindergarten und wohnt direkt gegenüber der Seniorenwohngemeinschaft. So kann sie ihre Mutter fast jeden Tag besuchen.
Die meisten der derzeit zehn Bewohner und Bewohnerinnen der türkischen Wohngruppe mit ihren zwei Balkonen, Dachterrasse und Gemeinschaftsküche leiden an Demenz. Das hat zur Folge, dass ihre Zweitsprache ins Rutschen kommt. Sie vergessen immer mehr Wörter und die Verständigung auf Deutsch klappt irgendwann nicht mehr. Dieses Phänomen ist auch in Krankenhäusern und Altersheimen bekannt, in denen Migranten im Rentenalter betreut werden. Egal ob mit türkischen, russischen oder italienischen Wurzeln – die Alten verstummen, weil ihnen die Worte verloren gehen.
„Das belegen viele Studien und das ist auch der Grund, aus dem wir neue Wohn- und Pflegeangebote mit interkultureller Ausrichtung brauchen“, sagt Josef Bura. Bura ist 69 Jahre alt und Vorsitzender des Forums Gemeinschaftliches Wohnen. Er hat an der Realisierung des Modellprojekts Veringeck mitgearbeitet. Ziel dieses Projektes ist, den Menschen in einem vertrauten Ambiente ein Altern in Würde zu ermöglichen.
Im Erdgeschoss des Veringecks sind ein Café und ein türkisches Bad untergebracht, im ersten und zweiten Stock gibt es insgesamt 17 Appartements für ein oder zwei Bewohner und Bewohnerinnen und ganz oben lebt auf rund 400 Quadratmetern die türkische Wohngruppe. Dort ist rund um die Uhr türkisch sprechendes Pflegepersonal im Einsatz und kümmert sich um die Bewohner, die bereits auf Hilfe angewiesen sind, und sind Ansprechpartner für die, die wie Sermin I. noch fit sind.
Etwa die Hälfte der WG ist Gemeinschaftsfläche und rund um die offene Wohnküche schlägt das Herz dieser Gemeinschaft. In den Zimmern und Fluren haben die Bewohnerinnen und Bewohner Fotos aufgehängt. Viele aus der Türkei und so wirkt das Veringeck deutlich freundlicher als eine Pflegestation in einem Altenheim. Das ist für die Familien, die ihre Angehörigen regelmäßig besuchen, wichtig.
„Wohngemeinschaften, in denen türkische Frauen und Männer gemeinsam ihren Alltag verbringen, sind etwas vollkommen Neues“, sagt Bura. Und Wilhelmsburg ist als Stadtviertel mit einem hohen Migrationsanteil als Standort für das neue Modell ideal. Trotzdem hat es etwas gedauert bis die zehn Zimmer im Veringeck belegt waren.
Für Fatma Celik liegt der Grund dafür auf der Hand. Es werde einfach zu wenig über die Angebote aufgeklärt. Die 68-Jährige hat früher in der Personalabteilung eines Hamburger Krankenhauses gearbeitet und engagiert sich seit etwa zehn Jahren für mehr interkulturelle Seniorenangebote. Mit ihrem Mann Saim geht sie fast jeden Tag zum interkulturellen Seniorentreff Mekan im Hamburger Stadtteil Altona. Dort wird musiziert, getanzt, gesungen und über kultursensible ambulante Einrichtungen wie das Veringeck informiert. Oder über das Tabea Pflegeheim „Leben mit Freunden“ in Lurup mit der hamburgweit bisher einzigen türkischen Abteilung in einem Pflegeheim.
Fatma Celik war mit ihrem Mann für die Konzeption dieser türkischen Abteilung verantwortlich. „Wir suchten damals nach Plätzen in Pflegeheimen mit türkisch sprechendem Pflegepersonal und kamen so mit der Leitung des Diakoniewerks Tabea in Kontakt“, erinnert sich ihr Mann Saim. Dort erkannte man das Potential und entschloss sich, eine türkische Abteilung mit 14 Plätzen innerhalb des gerade im Bau befindlichen Altenheims einzurichten.
Die Celiks wollten sowohl die Leitung des Diakoniewerks als auch potentielle Interessenten für einen Platz in der türkischen Abteilung des Heims gut beraten. Sie fuhren extra nach Duisburg, um sich dort das bundesweit erste multikurelle Altenheim anzugucken. Das Konzept des 1997 eröffneten „Haus am Sandberg“ basiert auf den Empfehlungen von zahlreichen Moschee-, Kultur- und Seniorenvereinen aus dem Ruhrgebiet und hat sich bewährt. „Schließlich will ich, wenn ich alt bin, auch in meiner Sprache sprechen und singen können“, sagt Fatma Celik. Das ist im Veringeck in Wilhelmsburg genauso möglich wie im Luruper Altenheim. Dort wurde die türkische Abteilung gerade von 14 auf 28 Plätze aufgestockt.
Es sind zwar noch nicht alle Betten belegt, aber der Bedarf nehme zu, sagt Nacife Tokuc. Sie ist für den Pflegedienst zuständig und immer auf der Suche nach qualifiziertem Pflegepersonal mit türkischer Herkunft. „Das ist knapp und der Bedarf bei uns und auch bei den mobilen Pflegediensten wächst“, sagt sie. Tokuc ist in der Türkei und in Deutschland aufgewachsen und ihr Vater hat geschafft, was vielen nicht gelingt: Er ist nach fast 30 Arbeitsjahren in Deutschland an die türkische Mittelmeerküste zurückgekehrt. „Er hat den Traum vieler Gastarbeiter wahr gemacht“, sagt Tokuc. Das bleibt vielen Migranten der ersten Generation verwehrt, weil sie ihre Kinder im Gastland nicht allein lassen wollen oder die Bindung an ihre alte Heimat verloren haben.
Tokuc weiß, dass auch die Finanzen eine Hürde sind, denn Pflegeangebote haben ihren Preis. „Viele Anfragen verlaufen nach dem ersten Informationsgespräch im Sande, weil die Pflegekosten den Familien zu hoch sind. Da herrscht oft eine Vollkaskomentalität“, sagt Tokuc.
Keine böse Überraschung
Für Yeşim F. hat es keine finanziellen Überraschungen negativer Art gegeben, seit sie ihre Mutter in die türkische Alten-WG gebracht hat. Die Kosten für die Unterbringung ihrer Mutter sind durch die Rente, die Pflege- und die Krankenversicherung abgedeckt. Auch die Hamburger Sozialbehörde hat sich bei dem Modellprojekt Veringeck von Anfang an großzügig gezeigt. In einigen Fällen hat sie sogar mit Zuschüssen dafür gesorgt, dass die Bewohner in der türkischen Wohngemeinschaft bleiben konnten und nicht ins teurere Pflegeheim umziehen mussten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!