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Hausbesuch beim InfomeisterDer Meister vom Leo

Sven Dittrich war Theatermacher, Gerichtsreporter, Marktforscher und Trödelhändler. Heute kümmert er sich um die Menschen am Berliner Leopoldplatz.

„Ein Sofa fehlt noch“: Dittrich in seinem Wohnzimmer im Berliner Wedding, im Hintergrund Kunst seines Mannes Foto: Stefanie Loos

Sein Arbeitsplatz ist ein Bauwagen, dort nimmt Sven Dittrich seit 2024 Anregungen, Kritik und Beschwerden entgegen. Als Infomeister ist er Brücke zwischen Verwaltung und Nachbarschaft.

Draußen: Auf dem vorderen Teil des Leopoldplatzes im Berliner Stadtteil Wedding ist an diesem Freitagmittag Markt. An den Ständen stapeln sich Handyhüllen, Kinderkleidung, Backformen. Es riecht nach Zimt. Von seiner Terrasse hat Sven Dittrich, 47, einen guten Blick auf den Platz: links die Spitze der neuen Nazarethkirche, in der die rechte Freikirche UKRG residiert, geradeaus ein Drogenmobil, in dem unter Aufsicht konsumiert wird, rechts die Rückseite des Cafés Leo mit sozialen Angeboten. Auf der Nazarethkirchstraße formen Betonsitze in Buchstabenform „Leopoldplatz“. Um das E haben sich Männer mit Schnaps versammelt.

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Drinnen: Sven Dittrich öffnet die Tür einer 180-Quadratmeter-Wohnung mit zwei Ebenen. Unten leben er und sein Mann, oben sieben weitere Menschen: „Für die WG gecastet.“ Im großen Flur Garderobenständer, Schuhe, „Gemeinschaftstisch“, in der Küche drei Kühlschränke. Im Wohnzimmer ein Holztisch, Teppich, Fernseher: „Ein Sofa fehlt noch.“ An den Wänden Aquarelle seines Mannes. Krempel sucht man vergeblich – nach einer Renovierung haben sie radikal reduziert.

Liebe: Seinen Mann, erzählt Sven Dittrich bei Kaffee und Zigarette auf dem Balkon, habe er schon in der Schulzeit kennengelernt: „Klassische Schulhofliebe.“ Seitdem haben die beiden viel gemeinsam probiert: Theaterprojekte, Wohnungen, Jobs. Geheiratet haben sie erst später, ihre Hochzeit in ihrer Stammkneipe am Platz gefeiert.

Spielstraße: Auf dem Holztisch im Wohnzimmer liegt eine Girlande aus Stoffresten. Dittrich erklärt: „Die nutze ich nachher als Absperrband für die Spielstraße.“ 2022 hat er mit anderen Anwohnenden und Ladenbesitzenden die Bürgerschaftsinitiative „Wir am Leo“ gegründet – nach langem Ärger und Unmut über Drogengeschäfte, Beschaffungskriminalität und Verelendung. „Damals gehörte es zum Alltag, dass Menschen sich mitten auf der Straße die Hose ausziehen und nach der letzten freien Vene suchen.“

Kiez: Der Berliner Platz mit der von Karl Friedrich Schinkel entworfenen Kirche gleicht einem Park. Im hinteren Bereich gibt es einen Kiez mit vielen Familien, Spielplatz, Cafés. Auf dem vorderen Teil des Platzes findet regelmäßig ein Markt statt. 2022 geriet der Platz wegen Drogenproblemen in Verruf. Vor 17 Jahren, als Sven Dittrich hierherzog, sagt er, sei der Platz ein anderer gewesen: „Damals waren Trinker das größte Problem.“

Werdegang: Vor Berlin träumte Dittrich von Theater, Regie oder Bühnenbild. „Zwischen 16 und 25 haben wir im Ruhrgebiet soziokulturelle Theaterprojekte gemacht.“ Gleichzeitig begann er als Lokalreporter. Später schrieb er Gerichtsreportagen: „Amtsgericht, also Diebstahl, Schwarzfahren, Körperverletzungen.“ Dadurch habe er die Menschen anders kennengelernt und „erlebt, wie schwer es sein kann, wenn du wenig Geld hast, wenn es nicht läuft, wie es soll“.

An der Garderobe hängt Arbeits­kleidung für den Infopoint Foto: Stefanie Loos

Schicksalsschlag: In Berlin begann er neben Theaterprojekten in der Marktforschung zu arbeiten, um Geld zu verdienen. Später bekam er eine Vollzeitstelle als Studioleiter in einem Meinungsforschungsinstitut angeboten. Nach fünf Jahren aber sei die Luft raus gewesen. Die schwere Erkrankung und der schnelle Tod seiner Mitbewohnerin brachten ihn zum Umdenken. Ihretwegen waren er und sein Mann von Marl nach Berlin gezogen: „Wir wollten zusammen weg. Jeder durfte eine Stadt nennen – sie wollte Berlin. Das ist es geworden.“ Während ihrer Erkrankung gab er seinen Bürojob auf: „Ich habe erst mal alles Mögliche gemacht, unter anderem in einer Kneipe gejobbt.“ Dann fragte ein Trödelhändler, ob er das Telefon übernehmen würde. „Die brauchen immer jemanden, der Anrufe entgegen nimmt und Entrümpelungen managt.“

Trödel: „Irgendwann meinte ein befreundeter Händler, dass ihm das Verkaufen keinen Spaß mehr mache – ob ich seinen Trödel übernehmen wolle.“ Grinsend erzählt Sven Dittrich, dass sein Mann daraufhin gefragt habe: „Wie, Trödelladen?“ – „Ich weiß es auch nicht, aber ist doch nett.“ Er stand dann vorne im Laden, sein Mann verkaufte online. Vorher hatte Dittrich den Leopoldplatz nur abends und am Wochenende erlebt. Im Laden, der direkt an den Platz grenzt, war er nah am Geschehen, lernte die Anwohnenden gut kennen: „Die Trödel hier sind sehr niederschwellig. Da gehen alle hin, die im Kiez wohnen.“

Kipppunkt: Die Übernahme fiel in die Coronazeit: „Das war der Kipppunkt auf dem Platz.“ Auf den Spielplätzen lagen Spritzen, „und ein Dealertrupp hat sich an der Kreuzung breitgemacht und den öffentlichen Raum in Geiselhaft genommen – sehr revierdominant“. In dem Jahr seien über 2.000 Spritzen gefunden worden, die Dealer blockierten Hausflure und Treppen: „Wer die Polizei gerufen hat, wurde als Hurensohn beschimpft.“ Die Polizei habe sich machtlos gezeigt und erklärt, dass Verdrängung politisch nicht gewollt sei. „Und der Bezirk hat bagatellisiert.“

Blick auf den Teil des Leopold­platzes, der regelmäßig zum Markt wird Foto: Stefanie Loos

Betreff „Protest Leo“: Um der Verelendung entgegenzuwirken, organisierte die von Dittrich mitgegründete Bürgerinitiative 2022 eine Demo. „Wir dachten, wir tun uns zusammen nach dem Motto: Gemeinsam sind wir stark.“ Er lächelt: „Zur Demo kamen 300 Menschen.“ Nach einer Runde um den Platz dankte er der Menge: „Ich hoffe, dass das Rathaus nun handeln muss.“ Daraufhin habe eine grauhaarige Dame gegrinst und gesagt: „Das Rathaus ist vor Ort.“ Es war die Bezirksbürgermeisterin. Auf die Demo am Leo folgte eine Onlinedemo: „Wir haben dazu aufgefordert, E-Mails an die politischen Akteure zu schreiben, und sei es nur ‚Betreff: Protest Leo‘ – Hauptsache, es nervt.“ Außerdem holten sie Presse auf den Platz und organisierten Aktionen wie Nachbarschaftstreffs und Clean-ups.

Sicherheitsgipfel: Durch den Druck wurde der Leopoldplatz zur Chefsache – und auf dem Berliner Sicherheitsgipfel besprochen: „Da wurde mit viel Geld neu gedacht, wie man mit solchen Orten umgehen kann.“ Seither sei viel passiert: „Es gibt wieder Leute aus der Nachbarschaft, die sich mit dem Platz neu identifizieren.“ Eine gut vernetzte Nachbarschaft sei ein wichtiger Baustein.

Infopoint: Aus Geldern des Berliner Sicherheitsgipfels werden neben verstärkter Polizei- und Sozialarbeit auch bessere Beleuchtung, eine City-Toilette, künstlerische Interventionen sowie ein Platzteam finanziert. In seinem Bauwagen vermittelt Dittrich Hilfesuchenden passende Anlaufstellen: „Wir suchen nach dem bestmöglichen nächsten Schritt, seien es die soziale Wohnhilfe oder die sozialarbeitenden Menschen hier.“ Zusätzlich versuche man für die Nachbarschaft immer wieder neue Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen, „wie das Kirschbaumfest, um ins Gespräch zu kommen“. Er selbst, fügt er nachdenklich hinzu, sei ins Handeln gekommen, um nicht abzustumpfen durch die täglichen Bilder. Er engagiere sich, damit seine Fähigkeit zur Empathie nicht kaputtgehe.

Auszeichnung: Vor wenigen Tagen erhielt er für sein Engagement eine Bezirksverdienstmedaille. Ob die Gelder weiterhin fließen, ist ungewiss. „Es wäre tragisch, jetzt das Geld rauszunehmen. Verelendung und Obdachlosigkeit werden uns begleiten. Die Frage ist, wie wir damit so umgehen, dass es für alle lebenswert bleibt.“ Er sei, sagt Sven Dittrich, ehe er zur Spielstraße aufbricht, sehr dankbar für den Job. Langweilig werde es nie.

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