Hausbesuch Erst machte Evelyn Spillmann als Managerin Karriere, dann streikte ihr Körper. Mit 36 Jahren war sie ausgebrannt, chronisch am Darm erkrankt und berufsunfähig. Sie musste lernen, radikal umzudenken: Sie will niemanden bekehren
von Eva-Lena Lörzer (Text) und Moritz Küstner (Fotos)
Bei Evelyn Spillmann in Hildesheim. Als Unternehmensführerin machte sie bei Blaupunkt Karriere – bis sie krank wurde.
Draußen: Eine Straße mit Villen, Fachwerkhäusern und einem Stück alter Stadtmauer in der Hildesheimer Altstadt. Es ist Sonntagmorgen, die Glocken von drei Kirchen schlagen zehn. Außer einer Frau, die im Nieselregen Laub vom Bürgersteig kehrt, ist niemand zu sehen.
Drinnen: Evelyn Spillmann lebt in einer Dachgeschosswohnung mit ihrem achtjährigen Sohn Vincent, der sich nur ungern vom Spiel im Kinderzimmer abbringen lässt. Vom Küchenbalkon blickt man auf den Birnbaum im Gemeinschaftsgarten. Auf dem Kühlschrank liegen aufeinandergelegte leere Chipstüten. „Mein Laster“, sagt Evelyn Spillmann. „Die werden zu Weihnachtssternen recycelt.“ Auf dem „Lebenstisch“, wie Evelyn Spillmann zu dem Holztisch im Wohnzimmer sagt, steht eine Kanne grüner Tee, ein Laptop, ein Smartphone, Magazine und Zeitungen sowie gehäkelte Beutel mit Püppchen für den Adventsbasar der Waldorfschule.
Früher: „Früher“, sagt Evelyn Spillmann, „war ich ein Workaholic.“ Früher, das war vor ihrem Burn-out und der Darmerkrankung. Die mittlerweile 40-Jährige hat bei Blaupunkt 2005 als Projektmanagement-Büroleiterin angefangen und ist nach ihrer Elternzeit als Marketingmanagerin beschäftigt gewesen, bis ihr Körper nicht mehr mitmachte: „Plötzlich war ich von Beruf Patientin und musste erst einmal lernen, auf meinen Körper zu hören.“
Jetzt: Nichts zu tun, fällt ihr immer noch schwer. Aber sie lebt seit Ausbruch ihrer Darmkrankheit bewusster. Um ihren Körper zu entgiften, hat sie eine Ausbildung zur Ernährungsberaterin gemacht. Mittlerweile leben sie und ihr Sohn vegan. „Er war fünf Jahre, als er bei einem Essen im Urlaub auf einmal fragte: ‚Was war das Steak eigentlich mal?‘ Als ich antwortete: ‚Eine Kuh‘, hat er ausgespuckt und nie wieder Fleisch angerührt.“ Das Vegane kam bei Mutter und Sohn dann nach und nach. Mittlerweile kauft die Alleinerziehende nur noch Saisonales auf Märkten, fair gehandelt, wenn möglich. Ohne Plastik versucht sie auch auszukommen.
Im Kleinen etwas verbessern: „Alleine über Vermeidung kann man so viel für die Umwelt machen“, sagt sie. Um andere für das Thema Verpackungsmüll zu sensibilisieren, hat sie 2013 auf Facebook eine Gruppe gegründet: Das Experiment gelber Sack. „Ich wollte einfach mal sehen, ob ich es nicht schaffe, nur einen halben Sack pro Jahr zu füllen. Es war gar nicht so schwer.“ Ihr eigenes Konsumverhalten öffentlich zu dokumentieren war zu Beginn eher eine Entscheidung zur Selbstdisziplinierung. Mittlerweile tauschen sich auf ihrer Seite über 800 Menschen über Müllvermeidung aus.
Über Konsum: „Als ich klein war, gab’s eine Barbie und einen Ken. Mittlerweile gibt es zu jedem Film die passende Barbie“, sagt Spillmann. Der Überfluss hat sie lange überfordert: „Ich habe immer impulsiv eingekauft. Mittlerweile achte ich darauf, was ich brauche und was nicht. Am Anfang dachte ich, ich könnte niemals auf meine elektrische Zahnbürste verzichten. Jetzt benutze ich schon seit Jahren Bambuszahnbürsten.“ Um ihrem Sohn bessere Produkte schmackhaft zu machen, nutzt sie auch schon mal ihre Marketingkenntnisse. Als er einmal einen Kakao in bunter Plastikverpackung haben wollte statt den fair produzierten, sagte sie: „Die Packung ist nicht so schön, aber wenn du magst, kannst du zu Hause deine Aufkleber darauf kleben.“ Das hat gewirkt.
Die anderen: Mit ihren Kollegen bei Blaupunkt hat sie seit ihrer Verrentung keinen Kontakt mehr. Sie brauchte erst einmal Zeit, sich selbst an ihre neue Lebenssituation zu gewöhnen. „Über eine chronische Darmerkrankung zu reden ist nicht so leicht wie über einen Armbruch.“ Mittlerweile hat sie über ihr Engagement für Umweltschutzthemen einen Kreis von Bekannten und Freunden, wo sie sich nicht erklären muss. „Das sind Menschen, die auch etwas im Kleinen verbessern wollen.“ Mit Menschen, denen das kein Anliegen ist, diskutiert sie nicht gern. Sie will niemanden bekehren: „Ich bin froh, wenn andere ihren Müll überhaupt in einen Sack stecken, und möchte gar nicht wissen, wie einige reagieren würden, wenn sie wüssten, dass ich mir beispielsweise meine Haare nur einmal im Monat wasche.“
Das Eigene: Bis zu einem gewissen Grad hat sie durch ihre Krankheit zur Ruhe gefunden. „Ich dachte am Anfang nur: ‚Ich bin 36, ich kann nicht in Rente gehen!‘ Mittlerweile habe ich gelernt, auf mich selbst zu achten.“ Zurzeit geht es ihr gesundheitlich gut. Das kleinste bisschen Stress wie ein verschobener Termin aber kann sofort zu einem erneuten Ausbruch der Krankheit führen. Dennoch sieht Spillmann die Dinge positiv. Auch dem Umstand, dass sie mit ihrem Sohn seit der Geburt allein lebt, gewinnt sie etwas Gutes ab: „Als Alleinerziehende kann ich alle Entscheidungen treffen, ohne dass mir jemand reinreden kann.“
Ruhepol: Auf der Vitrine in ihrem Wohnzimmer steht ein Bild vom Meer: Aquarell, gerahmt, gekauft auf einer Kreuzfahrt auf der „Aida“. „Ich habe das Sofa so gestellt, dass ich das Bild immer im Blick habe. Es hat etwas Beruhigendes. Ich glaube es heißt auch „Calmness“. Ich liebe das Meer.“
Zu Hause: Geboren wurde Evelyn Spillmann in Eisenach, „da, wo Luther auf der Wartburg war“. Und Elisabeth von Thüringen. Ihre Barbies kamen im Westpaket. Achtmal ist sie innerhalb Deutschlands umgezogen, zuletzt nach Halle, um nach der Geburt ihres Sohns in der Nähe der Mutter zu sein. Seit sechs Jahren lebt sie wieder in Hildesheim: „Hier bin ich hängen geblieben.“ Nach der Verrentung wollte sie nach Eckernförde, ans Meer; ihr Sohn war dort bereits an einer Schule angemeldet. Dann lösten die Umzugsvorbereitungen einen neuen Krankheitsschub aus. Manchmal denkt Spillmann noch an einen Neuanfang weiter nördlich, am Meer: „Vincent und ich sind Nordlichter.“ In der Zwischenzeit fühlt sich ihr jetziger Wohnort richtig an: „Zu Hause ist für mich weniger an Orte als an Momente des Wohlfühlens gebunden und an Menschen, die einen sein lassen, wie man ist.“
Zukunft: Angst um ihre Zukunft hat sie keine mehr. Sie kann sich genauso vorstellen, eines Tages wieder ihre alte Arbeit aufzunehmen, wie ein eigenes veganes Bistro zu eröffnen. Gerade hat sich eine gute Freundin von ihr in der Stadt mit einem veganen Bistro selbstständig gemacht, Spillmann hilft mit dem Marketing. Druck, bald wieder etwas außer ehrenamtlichem Engagement zu machen, hat sie nicht: „Ich habe früher ja gut verdient und hatte zu meinem Glück auch eine Berufsunfähigkeitsversicherung, sodass ich jetzt keine Geldsorgen habe.“
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