Hauptstadt der Ukraine im Krieg: Wut und der Wunsch, sich zu wehren

In Kiew schlagen weiter Geschosse in Wohnhäuser ein – offenbar, um die Bewohner der Stadt mürbe zu machen. Der Druck auf die Hauptstadt wächst.

Bewohnerin eines Plattenbaus auf dem Balkon - mit ukrainischer Flagge - ihrer ausgebrannten Wohnung

Kiew am Montag: Bewohnerin eines Plattenbaus auf dem Balkon ihrer ausgebrannten Wohnung Foto: Seth Sidney Berry/dpa

KIEW taz | Der Luftalarm beginnt um neun Minuten nach vier. Es ist Montagmorgen. Das ist überraschend, denn das Ende des vorherigen Alarms, der vor knapp zwei Stunden begonnen hat, wird nicht bekannt gegeben.

Die Fensterscheiben vibrieren leicht. So ist es immer, wenn irgendwo in der Ferne Explosionen zu hören sind. In Kiew haben sich die Menschen bereits daran gewöhnt. Es vibriert, wenn das Luftverteidigungssystem aktiviert wird, das Raketen abschießt. Also noch mal auf die andere Seite drehen und ein kleines Nickerchen machen. Bis zum Aufstehen bleibt noch eine Stunde Zeit.

Genau neun Minuten nach fünf Uhr kracht es – drei Explosionen. Sie sind so stark, dass, wenn hier ein Sideboard mit Kristallgeschirr stünde, es nicht leiser klingen würde als eine Sirene.

Eine Stunde später wird klar: Russische Artilleriegeschosse haben ein mehrstöckiges Wohnhaus in einem der Wohngebiete von Kiew sowie das Gelände des berühmten Flugzeugbaubetriebes Antonov getroffen. Es ist dasselbe Areal, wo zu Sowjetzeiten das größte Transportflugzeug der Welt „Mrija“ gebaut wurde und das die russischen Besatzer am 27. Februar bei der Bombardierung des Flugplatzes in Gostomel niedergebrannt haben.

Angriff auf Plattenbauten

Da, wo erst vor zwei Stunden ein großkalibriges Projektil in ein neunstöckiges Wohnhaus eingeschlagen ist, sind Feuerwehr und Rettungskräfte noch immer im Einsatz. Das Feuer, das mehrere Stockwerke verschlungen hat, kann vier Stunden nach dem Raketenabgriff endlich gelöscht werden.

Laut offiziellen Angaben wurden ein Mensch getötet und drei weitere Personen ins Krankenhaus gebracht. Fünfzehn Menschen tragen leichtere Verletzungen davon. In der Nähe dieses Hauses gibt es keine militärischen oder potenziell strategischen Objekte, sondern nur Plattenbauten.

Vor einem Aufgang des Hauses steht ein älterer Mann, er führt einen Dackel an der Leine. Mit glasigem Blick mustert er die zerbrochenen Fensterscheiben und weist auf ausgebrannte Wohnungen. Der 75-jährige Wladimir Petrowitsch ist Bewohner dieses Hauses. Zum Zeitpunkt der Explosion war er bereits wach und machte sich gerade für einen Rundgang mit seinem Hund bereit.

„In meiner Wohnung gibt es kein Fenster und keine Tür mehr. Ich werde jetzt wohl zu meiner Tochter in den Westen der Ukraine fahren. Es ist jetzt unmöglich, hier zu leben“, sagt er. Er hat eine kleine Tasche und, aus welchem Grund auch immer, einen Regenschirm bei sich.

Der Sirenenalarm hört fast nicht mehr auf

Obwohl die Kämpfe um Kiew bereits in die zweite Woche gehen und der Sirenenalarm fast gar nicht mehr aufhört, ist es schwer, sich auf eine solche Tragödie mental vorzubereiten. Doch niemand der Haus­be­woh­ne­r*in­nen bricht in Tränen aus oder verfällt in Panik. Alle packen ruhig kleine Taschen mit dem Nötigsten oder dem, was übrig geblieben ist.

Swetlana und ihre Familie haben Glück im Unglück. Ein Geschoss schlägt im Treppenhaus ein, direkt neben Swetlanas Wohnung. In drei Stockwerken wird das Treppenhaus zerstört, ihre Wohnung brennt vollständig aus.

Aber sie schafft es irgendwie, den Feuerwehrmann zu überreden, die Treppe zu dem Fenster des Raumes hinauf zu steigen, der morgens noch ihre Küche gewesen ist. Dann steigt sie selbst auf die Feuerleiter und zeigt dem Feuerwehrmann Sascha, wohin er gehen solle, um ihre Unterlagen zu suchen.

Er bahnt sich einen Weg durch die Trümmer zu einem Schrank. Dann geht er zu der Fensteröffnung zurück und zeigt ihr zwei gerahmte Fotos. „Sind die Dokumente da irgendwo?“, fragt Swetlana und fängt an zu weinen. Sie redet auf den Feuerwehrmann ein, weiter zu suchen. So geht das zehn Minuten lang.

Dann kommt ein Mann auf Swetlana zu und sagt: „Swet, es ist doch alles verbrannt. Es hat keinen Sinn, weiter zu suchen. Komm zu uns runter.“

„Alles ist verbrannt. Aber Hauptsache wir leben“

Da wird plötzlich klar: Das ist ihr Ehemann, der da mit den Kindern steht – die von den Fotos –, auch die Großmutter ist dabei. „Wir sind alle am Leben und sind entkommen, mit dem, was wir auf dem Leib tragen. Alles ist verbrannt, aber Hauptsache wir leben. Aber die da, sie werden alle zusammen mit Putin verdammt sein“, sagt die 70-jährige Irina Tadejewna.

An diesem Montag ist die Lage in Kiew angespannt. An einem einzigen Tag werden in drei zentral gelegenen Stadtteilen Wohnhäuser beschossen. Vom Balkon der Wohnung ist ein Marschflugkörper am Himmel zu beobachten. Er fliegt zu schnell, um ihn zu fotografieren, jedoch langsam genug, um seine enorme Größe zu erkennen.

20 Minuten später kommt die Nachricht, dass eine Rakete über Kiew abgeschossen worden und Teile davon in der Nähe eines ausgebrannten Wohnhauses niedergegangen seien. Eine Person sei getötet worden.

Zwei Millionen Menschen sind in Kiew geblieben

Nach Angaben der Stadtverwaltung sind rund zwei Millionen Menschen in Kiew geblieben. Immer häufiger ist der Satz zu hören, dass es die Strategie der russischen Armee sei, die Bevölkerung mit solchen chaotischen Angriffen mürbe zu machen.

Viele haben das begriffen. Sie bereiten sich auf eine mögliche Blockade vor, versorgen sich mit wichtigen Gütern und verstärken die Verteidigungsanlagen der Stadt, aber sie bleiben ruhig.

Vielen fällt es schwer, sich vorzustellen, dass jemand es wagen wird, Kiew genauso zu bombardieren wie Charkiw oder Mariupol. Doch der Druck auf die Hauptstadt wächst. Russische Truppen rücken vom Nordwesten, Norden und Osten auf Kiew vor. Gleichzeitig werden aus drei Richtungen Kie­we­r*in­nen aus der Hauptstadt evakuiert.

Aber das versetzt die Menschen nicht in Angst, wie der Aggressor glaubt – im Gegenteil. Das alles erzeugt Wut und den Wunsch, sich zu wehren.

Aus dem Russischen von Barbara Oertel

Anastasia Magasowa war Teilnehmerin eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.

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