: Hauen oder Küssen
■ Die 17-jährige Regisseurin Samira Makhmalbaf zeigt in „Der Apfel“ die ersten Schritte zweier Kaspar-Hauser-Mädchen in Teheran
Elfi Mikesch drehte vor vier Jahren einen zu Tränen rührenden Dokumentarfilm. Er zeigte einen Jungen, der ganze biografische Ewigkeiten von seinem Vater in Isolationshaft gehalten wurde. Selbst viele Jahre nach seiner „Befreiung“ liebte er nur eines wirklich, S-Bahn-Fahren. Auch „Der Apfel“ dokumentiert Menschen, denen ihr Leben geklaut wurde: die Zwillinge Zahra und Massoumeh aus irgendeinem Teheraner Armenviertel. Der iranische Film dürfte allerdings die weltweit einzigen Bilder liefern von Kaspar-Hauser-Menschen ganz unmittelbar nach ihrer Befreiung.
Gerade frisch ans Tageslicht geschlüpft wie Küken aus der Eischale, im Alter von 12 Jahren, nuscheln die beiden, stolpern über die eigenen Beine, hecheln wie Tiere hinter einem Apfel hinterher, die Gesichter erstarrt in hilflosem Grinsen. Der Film ist also ein wohl einzigartiges Dokument. Und eine Zumutung. Fast noch radikaler als ihr berühmter Vater Mohsen spottet Regisseurin Samira Makh-malbaf in den ersten 20 Filmminuten jedem westlichen Timing. Dokumentarisch heißt hier, dass der Zuschauer den Menschen mit Engelsgeduld durch die Nichtigkeiten ihres Lebens folgt, die Straße mit ihnen entlanggeht, die Türe aufschließt etc. Ein anstrengendes, schönes, adrenalinloses, fremdes Zeitempfinden.
Nicht erst seit Andre Eisermanns Erfolg als Kaspar Hauser oder Jodie Fosters „Nell“ bewegen uns Tarzanwesen, jene Menschen bar jeder Sozialisation. Mariveaux dichtete schon vor 200 Jahren in „Der Streit“ von einem Experiment, das zwei Buben und zwei Mädchen im rousseauschen Zustand der äußeren und inneren Nacktheit aufzieht. Fragestellung: Was ist angeboren, was ist durch Erziehung erworben?
Bei Makhmalbaf ist das Wegsperren der Mädchen gerade ein Produkt der Erziehung, genauer, eine Zuspitzung des islamischen Frauenbildes. Die Geschichte ist so: Der total ungebildete Vater hat nichts außer dem Mut zum Betteln. Im einzigen Schulheft, das er je besaß, steht es schwarz auf weiß: Mädchen sind Blumen, die unter der Sonne der Männer verdorren. Da muss man aufpassen.
Doch die Mutter ist blind und nicht gewillt das Haus zu verlassen. Also sperrt man die Töchter gleich ganz weg. Die Nachbarn meldeten diese Verwahrlosung dem Sozialamt, und der 17-jährigen Regisseurin gelang das Wunder, die menschenscheue Familie vor die Kamera zu bringen. Jetzt sehen wir ein unauflösliches Knäuel aus Dokumentarbildern, Szenen, die von den Beteiligten nachgestellt wurden und frei erfundenen Spielsequenzen: ein Mischlingsbalg aus Dok- und Spielfilm. Und wir erleben in der betreuenden Sozialarbeiterin eine resolute Frau, die in ihrem Engagement für die Mädchen kurz mal widerrechtlich über Gartenmauern steigt und sich des Freiheitsentzugs und der Sachbeschädigung schuldig macht. Mit Erfolg. Am Ende der Drehzeit fangen die anfangs asozialen Mädchen an zu begreifen, dass man Menschen ins Gesicht hauen oder einen Kuss geben kann, und dass es einen Unterschied zwischen beidem gibt.
Der Regisseurin wurde von Vater, Bruder, Opa kräftig unter die Arme gegriffen, und so kommt sie zum dialektischen Resumee: „Der Iran ist ein Ort, wo 11jährige Mädchen verstümmelt werden und eine 17-jährige einen Film darüber drehen kann“. Natürlich versteht sich dieser Film auch als Parabel auf eine restriktive Kopftuchgesellschaft. In Cannes und Locarno gab's dafür Sonderpreise. bk
Cinema, tägl. 19 Uhr
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